Zu viele Defizite: Wie die Schule versagt

Direktorin Andrea Walach
Was tun mit Risikoschülern? Das Problem liegt im Schulsystem selbst, findet Direktorin Walach.

Sie hat die Diskussion um die massiven Missstände in der Schule in einer KURIER-Reportage angestoßen: Andrea Walach (60), sei 1999 Direktorin der Wiener NMS Gassergasse. Rund ein Drittel ihrer Schüler seien für die Wirtschaft "nicht vermittelbar", sagt Walach.

KURIER: Frau Direktorin, was hat sich denn seit dem KURIER-Bericht getan? Wie waren die offiziellen Reaktionen?

Andrea Walach:Stadtschulratspräsident Jürgen Czernohorszky war vergangenen Freitag bei uns in der Schule. Er hat eine sehr offene und positive Grundhaltung und versteht unsere Probleme und die Probleme der Kinder. Er versteht, dass für viele Kinder schon das Elternhaus und die Umgebung, in der diese Kinder aufwachsen, nicht sehr einfach sind. Und auch, dass sehr viele der Schüler mit der deutschen Sprache sehr viele Schwierigkeiten haben.

Sie brauchen mehr Ressourcen, mehr Personal. Wird sich da etwas ändern?

Präsident Czernohorszky hat mir erklärt, dass er an die Vorgaben des Ministeriums gebunden ist. Er könne aber nur jene Ressourcen weitergeben, die er vom Bund bekommt. Das tut er natürlich auch – aber mehr gibt es leider nicht.

Verstehen Sie das Problem?

Das Ministerium müsste mehr Ressourcen zur Verfügung stellen oder innerhalb des Schulsystems ein bisschen umverteilen. Ich weiß zum Beispiel von anderen Schulstandorten – etwa im Wein- oder im Waldviertel –, da haben wir Klassen mit 12 Kindern, die zusätzlich in zwei Unterrichtsstunden noch doppelt betreut werden – also von zwei Pädagogen. Wien ist da nicht so privilegiert.

Das war auch eine Kritik der OECD nach dem PISA-Test: Schulen mit einem sozial guten Background – also mit Kindern von bildungsaffinen und gut situierten Familien – bekommen tendenziell mehr Mittel als jene Schulstandorte mit ungünstiger Zusammensetzung der Schüler.

Jede Gemeinde ist bestrebt, eine eigene Schule zu haben. Das ist scheinbar wichtig für das Image einer Gemeinde. Damit werden aber meines Erachtens zu viele Mittel gebunden, die in den städtischen Gebieten dann fehlen.

Beim Deutsch-Test in den Volksschulen von vergangener Woche ist aufgefallen, dass die burgenländischen Schulen am besten abgeschnitten haben. Dort gibt es im Durchschnitt um fünf Schüler weniger in den Klassen als in Wien (16,4 Volksschüler pro Klasse im Burgenland, 21,8 in Wien).

Das spricht für eine kleine Gruppe. Je kleiner die Gruppe, desto bessere Erfolge kann ich erzielen.

Dennoch: Unterm Strich heißt das, Sie bekommen viel Verständnis für Ihre Situation, aber es ändert sich vorerst nichts?

Wir sollten uns ausrechnen, ob wir aus zwei Klassen drei kleinere Gruppen machen können, mit den gleichen Ressourcen. Das geht sich aber leider nicht aus.

Das heißt, alles bleibt gleich?

Es ändert sich bisher nichts. Die Frage müsste man anderen stellen.

Sie haben für so viel Aufsehen gesorgt, weil erstmals eine aktive Pädagogin die Missstände beim Namen genannt hat. Ein Drittel Ihrer Kinder seien nicht vermittelbar, klagen Sie. Wie sich zeigt, sind in Wien rund 20 Prozent jedes Jahrgangs Risikoschüler, österreichweit rund 13 Prozent.

Genau das ist das Problem. Und jetzt haben wir mit den Deutsch-Tests gesehen, dass schon in der Volksschule massive Schwächen auftreten. Wenn man bedenkt, dass die leistungsstarken Volksschüler danach in eine AHS gehen, und die schwächeren in die NMS kommen, dann müssten wir eigentlich mit den Anforderungen des Lehrplans viel weiter unten anfangen dürfen, damit wir da aufbauen können. Wenn wir aber immer nur weiter im Lehrplan aufstocken, dann fehlt die Basis immer mehr. Wir müssen aber aufstocken, weil wir uns nach dem Lehrplan richten müssen, und am Ende der achten Schulstufe auch dem Bildungsstandard in allen Fächern entsprechen müssen.

In Wien haben wir ein besonderes Problem, hier gehen entgegen dem Bundestrend zwei Drittel der Kinder in eine AHS. Würden Sie das auch so beurteilen, dass damit in beiden Institutionen – in den NMS und in den AHS – das Niveau sinkt?

Ja, das stimmt. Wir haben an den NMS aber auch leistungsaffine Schüler, die einen Dreier im Zeugnis haben und nur ein bisschen aufholen müssen. Jetzt werden diese Schüler – zum Glück muss ich sagen – nicht mehr von den AHS aufgenommen. Denn es hat Zeiten gegeben, da haben die AHS sogar Kinder mit einem Vierer genommen, das wurde jetzt untersagt.

Aber in Wien schaut das wie ein Systemversagen aus. Wie soll man das lösen?

Mein Ansatz wäre, dass man versucht, jedes Kind individuell zu fördern und zu fordern. Von leistungsstarken Kindern kann ich sehr wohl eine Leistung einfordern. Es ist nicht so, dass der Leistungsgedanke total verpönt ist. Je besser meine Leistung ist, desto mehr gewinnt mein Eigenwert, mein Selbstbewusstsein, weil ich auf etwas stolz sein kann. Wenn nie etwas eingefordert wird, dann vernachlässige ich etwas, und der Selbstwert sinkt auch. Wenn ich ständig über die Kinder hinweg unterrichte, weil die Leistungsanforderungen nicht passen, wird das Problem nur immer größer.

Wie meinen Sie das?

Der Lehrplan schreibt vor, was ein Elfjähriger können muss, was ein Zwölfjähriger können muss. In Wahrheit trifft das System aber auf Kinder, die schon mit großen Defiziten aus der Volksschule kommen. Die Volksschulen können ja auch schon nichts dafür, weil die Kinder aus den Kindergärten mit Defiziten kommen. Das ist insgesamt nur sehr schwierig, weil wir nicht am Kind orientiert unterrichten können.

Wo hat denn da der Fehler begonnen?

Das ist ein schleichender Prozess. Wir Lehrer machen schon seit Jahren aufmerksam, was sich negativ entwickelt. Wir möchten den Kindern das beibringen, was ihnen fehlt, und nicht das, was sie laut Lehrplan in ihrem Alter vermittelt bekommen müssen. Aber ich bemerke, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo auch die Wirtschaft rebelliert, weil sie zu wenig Lehrlinge findet.

Der Deutsch-Test hat aber auch gezeigt, dass sehr viele Kinder dem Unterricht aus sprachlichen Gründen gar nicht folgen können.

Ja, das ist interessant. Laut Gesetz ist ein Kind "außerordentlich", wenn es dem Unterricht in der deutschen Sprache nicht folgen kann. Maximal zwei Jahre sollte ein Kind dann "außerordentlich" am Unterricht teilnehmen und die Sprachdefizite aufholen. Jetzt habe ich aber nachweislich fast alle Kinder bei uns in der Kompetenzstufe B – die lautet: "Kann dem Unterricht nicht ausreichend folgen". Also müssten laut Gesetz alle "außerordentlich" sein, und in maximal zwei Jahren Deutsch lernen. Das ist aber nicht der Fall. Für mich ist das eine Gesetzeslücke.

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