Stuttgart 21 "hat alles verändert"

Stuttgart 21 "hat alles verändert"
Interview: Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann über die Folgen von Stuttgart 21, Bürgerbeteiligung und Regierungsmühen.

Im Mai wurde Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg als erster von den Grünen gestellter Ministerpräsident Deutschlands angelobt. Nach der Volksabstimmung am Sonntag muss er nun das von ihm abgelehnte Bahnprojekt Stuttgart 21 umsetzen. Der KURIER traf ihn in Wien.

KURIER: Sie haben auf die Niederlage gelassen reagiert. Wie wollen Sie auch die enttäuschten Aktivisten überzeugen, die weiter demonstrieren?

Winfried Kretschmann: Wenn man direkte Demokratie will, muss man sie auch akzeptieren. In der Sache war es auch für mich hart. Aber mehr Demokratie gibt es nicht, als das Volk in einer Sache abstimmen zu lassen. Und dann muss jeder gute Demokrat das akzeptieren. Ausgehend davon werde ich mit den Menschen reden, die das Ergebnis schwer verkraften. Man darf aus Gegnerschaft keine Feindschaft machen.

Sie möchten Volksabstimmungen erleichtern. Ist das nicht zum Teil eine Überforderung der Bürger?
Unser Ziel ist es, die hohen Hürden für Volksbegehren - aus dem Volk heraus - drastisch zu senken. Wir brauchen neue Formate, wie die Zivilgesellschaft in Entscheidungen rechtzeitig, fair und transparent eingebunden wird. Sie braucht Zugänge, über die Lobbys und Interessensgruppen schon immer verfügen. Die repräsentative Demokratie bleibt das Rückgrat, die direkte kommt dazu. Dazu habe ich eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung berufen.

Warum hat Stuttgart 21 solche Emotionen ausgelöst?
Einerseits ging es um die Sache, andererseits war es eine Frage der Demokratie und der Partizipation. Dieses Projekt wurde von oben nach unten in Basta-Manier durchgedrückt. Die Bürgeranhörungen waren eine Farce, das Volk wurde von Amtsträgern und Bürokraten ständig abgewiegelt. Deswegen sage ich: Es war ein erfolgreicher Protest, der Deutschland fundamental verändert hat. Alle wissen, dass man in Zukunft bei solchen Infrastrukturprojekten die Bürgerschaft anders beteiligen muss. Das macht das Regieren nicht leichter, aber sinnhafter.

Welche Erfahrung können Sie den österreichischen Grünen über den Schritt an die Regierungsspitze mitgeben?
Man steht dann für das Ganze und muss führen. Das ist eine gewaltige Umstellung. Aber es bringt auch einen ganz anderen Gestaltungsspielraum. Dass ich Ministerpräsident - gerade in einem Hochtechnologieland - geworden bin, ist auch Ausdruck, dass unsere Themen in der Mitte der Gesellschaft und der Wirtschaft angekommen sind. Unser Lebensmodell mit den Grundlagen des Planeten in Übereinstimmung zu bringen, ist die große Jahrhundertfrage.

Stuttgart 21 "hat alles verändert"

Wie verträgt sich ein Regierungsamt mit den Ansprüchen der kritischen Basis?
Klar: Der Schritt vom kleinen Ideengeber zu einer Kraft, die die ganze politische Breite abdecken muss, ist eine Umstellung. Es ist ein Unterschied, ob man zehn oder wie wir 25 Prozent der Wähler vertritt. Das dauert.

Grüne sind kritisch, wenn es um Verkehrs- und Energieprojekte geht. Können Sie sich etwa ein Atomendlager in Ihrem Land vorstellen?
Ich habe den Prozess einer neuen, offenen Suche nach einem Atomendlager erst angestoßen. Der Atommüll ist nun einmal da. Wir wissen, wie viel noch produziert wird. Und er muss an den sichersten Standort in Deutschland. Das kann keine Frage der Geografie, sondern nur der Geologie sein. Und wir haben potenziell geeignete Formationen im Land. Das bringt mir Schwierigkeiten ein, aber nur so konnte ich eine offene Endlagersuche im Konsens anstoßen.

Stuttgart 21 "hat alles verändert"

Kanzlerin Merkel hat sich mit dem Atomausstieg ein grünes Kernthema angeeignet. Müssen sich die Grünen inhaltlich neu erfinden?
Es ist umgekehrt. Wir sind orientiert. Wir geben den Takt vor. Die CDU rennt unseren Themen hinterher. Sie hat ein Orientierungsproblem und gehört in die Opposition. Oppositionsbänke sind hart - regen aber das Denken an.

Sie sind eben Politiker des Jahres geworden, haben gute Umfragewerte, ihr CDU-Vorgänger Oettinger sagte einmal: Kretschmann ist Kult. Wie gehen Sie damit um?
Als Katholik weiß ich: Zwischen 'Hosianna' und 'Kreuziget ihn!' können nur drei Tage liegen. Man muss bescheiden bleiben und der inneren Überzeugung folgen.
Deutschland ist wie Österreich stark föderal organisiert. Sind die Länder in finanziell klammen Zeiten ein Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Teil der Lösung. Wie sollen sich Menschen sonst in einer globalisierten Welt beheimatet fühlen. Gerade jetzt ist es wichtig, nur die Probleme nach oben zu delegieren, die man unten nicht lösen kann.

Zur Person: Winfried Kretschmann
Privat
Kretschmann, Jahrgang 1948, gelernter Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie, Ethik. Engagierter Katholik, verheiratet, drei Kinder.
Politik
Im Studium war er im Kommunistischen Bund, was er später als "fundamentalen politischen Irrtum" bezeichnete. Heute gilt er als liberal-konservativer Vordenker. 1979/'80 Mitbegründer der Grünen Baden-Württemberg. 1983 bis 1984 und 2002 bis 2011 Fraktionschef. Seit Mai 2011 Ministerpräsident.

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