"Starke EU oder wir werden irrelevant"

"Starke EU oder wir werden irrelevant"
Martin Schulz beklagt Vetodrohungen und taktische Spielchen der Politiker. Er ist für eine europäische Regierung.

Der Sozialdemokrat Martin Schulz ist am Donnerstag offiziell in Wien und trifft die Staats- und Regierungsspitze.

KURIER: Herr Präsident, was ist das Ziel der Reise in ein Land, dessen Bevölkerung großteils EU-skeptisch ist? (mehr dazu hier)

Martin Schulz: Ich zolle Österreich meinen Respekt als wichtiges EU-Land. Ich komme, um zu sagen, welche Vorteile Österreich durch die Erweiterung hat. Nach 17 Jahren EU-Mitgliedschaft ist Österreich nicht ärmer, sondern reicher geworden. Ich nehme die EU-Skepsis sehr ernst, ich will mein Europa skizzieren und darüber diskutieren.

Über welches Europa?

Der Nationalstaat ist in seiner Leistungsfähigkeit für den Schutz der Bürger an seine Grenzen gestoßen. Im globalen Dorf brauchen wir politisch und ökonomisch eine starke EU. Das ist meine These. Wenn jemand sagt, wir brauchen die EU nicht, wir leben im Nationalstaat besser, wir wollen raus aus der EU, dann haben die Österreicher eine Alternative und die Chance, zu wählen.

Frank Stronach und seine Anhänger wollen zurück zum Schilling, die EU ist ihnen suspekt. Haben Österreichs Politiker versäumt, die Menschen zu überzeugen?

Um die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, brauchen wir die gemeinschaftlichen Institutionen, auch den Euro. Die Herausforderungen sind der weltweite Handel – durch den Herr Stronach Milliardär geworden ist –, die weltweiten Währungsbeziehungen, die damit verbundenen Spekulationen, die Steuerflucht, der Klimawandel und die Migrationsfrage. Wir brauchen die Kraft der EU, um unser Gesellschaftsmodell zu verteidigen. Für diese riesigen Herausforderungen sind wir zu klein, dafür brauchen wir die EU, notfalls auch eine europäische Regierung. Das ist die Realität des 21. Jahrhunderts: Entweder es gibt eine starke EU, oder wir werden irrelevant, Österreich ebenso wie Deutschland. Wenn wir das erklären, können die Leute zwischen dem und Stronach wählen. Es braucht eine breit angelegte Debatte, die von nationalen Politikern geführt wird. Ich bin sehr froh, dass Werner Faymann sich jetzt intensiv um die Europa-Politik kümmert.

Die Arbeitslosigkeit steigt, vom Wachstums- und Beschäftigungspakt hört man nichts mehr...

Das ist skandalös. Im Juni habe ich ein Abkommen zwischen Rat, Kommission und Parlament angeboten, die Bankenunion schnell zum Abschluss zu bringen, den Wachstums- und Beschäftigungspakt aufzulegen. Dafür war das Parlament auch bereit, die Gesetzgebung zu beschleunigen. Alle waren dafür, nur die EU-skeptischen Regierungen der Niederlande, Schwedens und Großbritanniens waren dagegen. Ausgerechnet die Länder, die immer über die Handlungsfähigkeit der EU jammern. Die EU hat kein Problem mit der Währung und der Wirtschaft, sie hat ein Problem mit dem politischen System. Das Veto und die taktischen Spielchen, das sind die großen Probleme der EU.

Sind Sie für ein eigenes Budget und ein eigenes Parlament für die Euro-Staaten?

Wenn man im Rahmen des EU-Haushalts ein Unter-Budget für wachstumsstimulierende Maßnahmen schafft, kann man darüber reden. Der EU-Vertrag legt eindeutig fest: Das Europäische Parlament ist das Parlament aller Staaten. Ein separates Parlament – die Idee kommt aus der EZB – ist zum Scheitern verurteilt.

Das wollen auch die Präsidenten von Rat, Kommission, EZB und Euro-Gruppe?

Ich nehme jetzt an den Verhandlungen teil und trage dazu bei, dass die Summe der allzu undurchdachten Ideen abnehmen wird.

Im November soll das EU-Budget 2014–2020 beschlossen werden. Ist das möglich, wenn der britische Premier mit dem Veto droht?

Ich finde es erstaunlich, dass in einer Gemeinschaft von 27 Regierungschefs einer vor Beginn der Verhandlungen sagt, entweder es geht nach meiner Pfeife oder es geht nicht. Wenn das so käme, wie es sich Cameron wünscht, dann gibt es ein anderes Veto, das des Europäischen Parlaments. Es muss ein Kompromiss gefunden werden, das Parlament wird bewerten, ob er ausreicht. Was wir absolut nicht akzeptieren, ist diese aufgeladene ideologische Argumentation, man müsse überall sparen, deshalb muss auch Brüssel sparen.

Sind Sie 2014 Spitzenkandidat der SPE für den Kommissionspräsidenten?

Dass mein Name genannt wird, ehrt mich. Es ist aber zu früh, darüber zu reden.

Wird es bei der Europa-Wahl 2014 schon grenzüberschreitende Listen geben?

Ich wünsche es mir, habe aber meine Zweifel, dass es dazu kommt.

Eine andere Frage, die viele beschäftigt: Antisemitische Angriffe nehmen in der EU zu. Eine Gefahr?

Wir haben einen wachsenden Antisemitismus, das Besorgniserregende daran ist, dass er in die Mitte der Gesellschaft eindringt, in bestimmten Kreisen ist es wieder akzeptabel, Judenwitze zu reißen. Ich finde das dramatisch. Es werden auch Roma und andere ethnische Minderheiten zunehmend Ziel rassistischer Attacken. Da wäre die Grundrechte-Agentur aufgerufen, einzuschreiten. Gegen den wachsenden Antisemitismus muss sich die Gesellschaft wehren. Es kommt darauf an, ob führende Mitglieder unserer Gesellschaft, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Wirtschaftskapitäne sagen, so lange ich hier bin, gibt es keinen Antisemitismus. Die Solidarisierung mit jüdischen Gemeinden durch führende Repräsentanten der Gesellschaft ist das, was wir brauchen.

Martin Schulz: Europa-Karriere

Biografie Geboren 1955 in Hehlrath. Buchhändler-Lehre. Gründete eigenen Buchladen.

Politik Mit 19 Jahren Beitritt zur SPD. Elf Jahre Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen.

EU-Stationen Seit 1994 EU-Abgeordneter. Ab 2004 Fraktionschef der Europäischen Sozialdemokraten (SPE). Seit Jänner 2012 Präsident des EU-Parlaments. Im Parlament genießt er breite Zustimmung.

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