Russland: Wie eine Grazerin die Demos erlebt

Russland: Wie eine Grazerin die Demos erlebt
Angelika Molk, eine Österreicherin, die in Moskau lebt, schildert dem KURIER ihre Eindrücke von den Protesten. Eine Innenansicht.

Seit den Parlamentswahlen vor einer Woche gehen in vielen Städten Russlands die Wogen hoch. Demonstriert wird vor allem gegen die angenommene Wahlfälschung. Letzten Samstag fand wie der KURIER bereits berichtete die bisher größte Demonstration in Russland seit zwanzig Jahren statt. Wie erleben die Menschen vor Ort die Proteste? Der KURIER sprach mit Angelika Molk über ihre Eindrücke.

KURIER: Sie sind am Samstag auch bei der großen Demonstration gewesen, bei der laut Angaben der Behörden 30.000, laut Demonstranten gar 100.000 Menschen waren. Hatten Sie eigentlich Angst, hinzugehen?

Angelika Molk: Ja, natürlich hat man vorher ein ungutes Gefühl, in den Medien wird viel über mögliche Ausschreitungen berichtet, und man weiß auch, dass die russische Polizei mit Demonstranten nicht gerade zimperlich umgeht. Vor der Demo kursierten diverse Gerüchte: Unter anderem wurde behauptet, dass eine spezielle tschetschenische Kampfeinheit bereitgestellt sei. Studenten wurden auf der Universität gewarnt, sich nicht auf der Demo blicken zu lassen, in den Schulen wurde am Freitag überraschend ein verpflichtender Test für die Zeit des Meetings angesetzt. Ärzte warnten öffentlich davor, am Samstag zum Meeting (so wird die Demonstration in Russland genannt, Anm. d. Red.) zu gehen, da die Grippegefahr sehr hoch sei oder ein Astrologe riet, am Samstag große Menschenmassen zu meiden.

Friedliche Proteste

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Wie erlebten Sie die Demonstration?

Alles ist sehr ruhig, friedlich und positiv verlaufen. Auch die Polizei hat sich korrekt verhalten. Obwohl über 50.000 Polizisten anwesend waren, haben sie sich zumeist abseits gehalten. Viele Demonstranten sind dem Aufruf der Organisatoren gefolgt und kamen mit Blumen, Ballons oder weißen Bändern, um zu zeigen, dass sie keine aggressive Konfrontation wollen. Verschiedene Losungen machten die Runde, viele sind mit Plakaten gekommen, auf denen mal ernste, mal weniger ernste Losungen zu lesen waren. Die beliebtesten und die am lautesten wiederholten: „Russland ohne Putin“, und „gemeinsam sind wir unbesiegbar“.

Wer hat demonstriert?

Das für mich schöne an der Demonstration war, dass Leute aus allen Gesellschaftsschichten gekommen sind. Anarchisten standen neben Monarchisten, Frauen im Pelzmantel neben Studenten und Pensionisten. Was sie alle vereinte war einfach die Unzufriedenheit mit den Wahlen und der Situation in Russland generell.

Bemerken Sie die Protestbewegung und deren Folgen seit letzter Woche auch im Alltag?

Bei der Demo sah man viele Menschen mit weißen Bändern, aber auch bei Metrostationen. Ansonsten ist Moskau zu groß, um wirklich überall etwas von den Ereignissen mitzubekommen. Es ist aber definitiv mehr Polizei als sonst auf den Straßen, besonders bei strategisch wichtigen Punkten wie bei der Twerskaja (große Straße im Zentrum, anm. d. Red.), oder in der Nähe des roten Platzes.

Russland: Wie eine Grazerin die Demos erlebt

Polizist
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Junge Frau mit weißen Blumen.
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Menge
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weiße Schleifen
Russland: Wie eine Grazerin die Demos erlebt

Menge mit Fotograf
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Menge mit Plakaten

Soziale Netzwerke mit eigener Dynamik

In Russland gibt es ein „eigenes Facebook“, ein soziales Netzwerk namens „VKontakte“ („im Kontakt“), wie wichtig ist die Rolle dieser und anderer Social Media Plattformen für die Protestbewegung? Sind hier Parallelen zu Protesten in anderen Ländern zu erkennen?

Die sozialen Netzwerke sind natürlich sehr wichtig, vor allem Facebook und VKontakte zur Verbreitung der Informationen. Während der Demonstrationen hat es auch mehrere Live-Übertragungen gegeben, und viele der größeren Magazine haben die Ereignisse laufend kommentiert, auf Twitter, aber auch auf eigens dafür eingerichteten Bereichen auf den Homepages. Auf snob.ru konnten sich verschiedene Leute in den Stream einschalten, das ist einerseits natürlich informativ, andererseits auch sehr praktisch für die Teilnehmer selbst im Falle einer Eskalation. VKontakte ist in Russland generell noch populärer als Facebook, wobei die Popularität aber gerade schwindet. Während der Wahlproteste hat sich gezeigt, dass sich VKontakte leichter regulieren/kontrollieren lässt als Facebook. Es waren einfach mehr Informationen auf Facebook zu finden.

In den letzten Tagen wurden immer wieder kritische Websites lahmgelegt. Weiß man, wer dahinter steckt und ist es nicht im Grunde eine recht wirkungslose Maßnahme, da alle Infos sowieso in den sozialen Netzwerken zu finden sind?

Die Mediensperren waren zumindest ärgerlich, weil über die sozialen Netzwerke hauptsächlich die Links zu den Websites veröffentlicht werden. Der Großteil der Information ist also weiterhin dort zu finden. Es waren Hackerattacken, ich glaube aber nicht dass es dazu ein offizielles Bekenntnis gibt. Dass das von Seiten der Machthabenden geschehen ist, ist natürlich reine Spekulation. Während der Demo waren viele Leute mit Smartphones unterwegs, es wurde viel fotografiert, gefilmt, getwittert, obwohl das Netz manchmal zusammengebrochen ist, einfach wegen der Menschenmasse.

Wie schätzen Sie persönlich die Wirkung der Proteste ein? Sind Vergleiche zu den Protesten in anderen Ländern wie „Occupy Wall Street“ oder gar zum arabischen Frühling gerechtfertigt?


Man hört oft das Wort Revolution, wenn von dem Meeting berichtet wird, und vergleicht die Demo beziehungsweise das Geschehen in Russland mit dem arabischen Frühling. Den meisten geht es denke ich aber gar nicht um einen Umsturz des Systems. Vielmehr ist diese Demo ein Zeichen dafür, dass das Land endlich aufwacht, dass eine politikverdrossene Gesellschaft beginnt, offen das System zu kritisieren. Das Meeting ist keine Revolution, sondern zeigt, dass sich endlich eine Opposition entwickelt. Auch junge Leute beginnen, sich für die Zukunft ihres Landes zu interessieren und nicht mehr alles als gegeben und unveränderlich hinnehmen. Das ist ein Zeichen für die Bildung einer intelligenten, starken Opposition und der erste Schritt zu einer tatsächlichen Demokratisierung des Landes.

Angelika Molk, 29, Slawistin, Doktorandin der HU-Berlin/RGGU Moskau. Sie lebt seit 2008 in Moskau.

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