„Wir haben Polarisierung und Radikalisierung an allen Fronten“

Facebook ist ein wichtiges Werkzeug, um Inhalte zu verbreiten, Nutzer konnten aber nicht direkt Geld damit verdienen
#GegenHassimNetz: Rechtsextremismus-Experte Ralf Melzer im Gespräch.

"Wir müssen als Demokraten höllisch aufpassen, dass unmenschliche Ideologien nicht immer tiefer in das System einsickern". Das war einer der Kernaussagen des deutschen Netz-Experten Sascha Lobo im Rahmen eines Vortrags an der Tübinger Universität über gefährliche Tendenzen im gesellschaftlichen Diskurs. Dessen Haupttreiber soziale Medien und Blogs sind, als Orte gefühlsgetriebener Meinungsäußerung, wo der Hass einen immer breiteren Konsens erfährt. Sein Appell: "Erobert die sozialen Netzwerke wieder zurück". Darüber und woher die Wut und der Hass in der gesellschaftlichen MItte kommen, sprach der KURIER mit Dr. Ralf Melzer vom Projekt „Gegen Rechtsextremismus“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

„Wir haben Polarisierung und Radikalisierung an allen Fronten“
Vom besorgten Bürger zum feindseligen Wutbürger und, in der Folge, Wut-Täter. Der Rechtspopulismus hat die Mitte erfasst, es ist unser Facebook-Freund, unser Nachbar. Wie erklären Sie dieses Phänomen?

Zum einen gibt es gesellschaftliche Ursachen für dieses Phänomen, – was sich aus meiner Sicht aber sehr unzulänglich im Begriff des Wutbürgertums ausdrückt. Wir haben es mit tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu tun: Globalisierung, Digitalisierung, aktuelle politische Verwerfungen weltweit, die Folgen der Finanzkrise, soziale Ungleichheit, Staatsüberschuldung, Euro-Rettung, Flucht aufgrund von Bürgerkriegen in unmittelbarer Nachbarschaft Europas: All das verursacht bei vielen Menschen teilweise begründete Besorgnis. Denn es gibt ja reale Bedrohungen, der Islamistische Terror ist real, nicht herbeifantasiert. Aber es existieren auch viele Bedrohungsgefühle, die objektiv betrachtet, irrational sind. Und es gibt eine Überforderung von Menschen, eine Orientierungslosigkeit. Eine Suche nach Orientierung, die sich unter anderem darin ausdrückt, dass die Parteien und die Politik unter Druck geraten. Weil sie - mehr noch, als vor einiger Zeit - unter großem Problemlösungsdruck stehen. Teil dieser Ängste, Sorgen und Wut ist Ungeduld. Menschen haben die Vorstellung, dass die Politik unmittelbar, ganz schnell und ganz direkt auf all ihre Probleme Antworten und Lösungen finden müsse. Das geht aber nicht, weil die Verhältnisse sind, wie sie sind - nämlich komplex und weltweit miteinander verwoben.

Diese Wut, diese Ängste werden instrumentalisiert.

Diese Unzufriedenheit, die sich häufig diffus äußert, als dieses „Die Politiker kommen nicht zu Potte…“ oder „Die demokratischen Parteien lösen die Probleme nicht, sondern zerreden alles…“, zeigt auch, dass wir es mit einer Repräsentationskrise zu tun haben. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland wird sie dadurch verstärkt, dass es Akteure gibt, die gezielt Ängste und Sorgen instrumentalisieren und anheizen, indem sie einfache Antworten auf schwierige Fragen geben. Die Phänomene, mit denen wir da zu tun haben, sind also eine Mischung aus einer sehr komplexen politischen Problemlage, der Suche nach Orientierung - häufig verbunden mit einem Gefühl der Überforderung - sowie Akteuren, die all das für ihre Zwecke ausnutzen.

Es scheint, als gäbe es eine beschleunigte Form der Schwarm-Wut, getriggert durch das Netz, die sozialen Medien, durch den Boulevard. Wie sehen Sie das?

Ja, das ist eindeutig so. Das Internet und besonders die sozialen Medien tragen dazu wesentlich bei. Es gibt ja kaum noch eine gemeinsame Agora, wo die großen gesellschaftlichen Debatten stattfinden. Selbst Fernsehtalkshows und erst recht Printmedien büßen ihre Leitfunktion ein. Die professionellen Medien haben ihre Gatekeeper-Funktion mehr oder weniger verloren. Menschen informieren sich heute vermehrt im Internet. Informationsbeschaffung und Kommunikation erfolgen zunehmend selektiv. Dadurch entsteht eine Gegenöffentlichkeit, in der rechtsradikale Websites oder Blogs leicht Einfluss gewinnen können.

Ein Leben und Denken in der Wut-Blase?

Im Grunde ist es das Stammtischphänomen - nur um ein Vielfaches potenziert. In dem Sinne, als sich Menschen über die Kommunikation in Facebook oder in bestimmten Chats, Foren oder Blogs vor allem in ihrer Peer-Group bewegen und eigene Einstellungen dort wiedergespiegelt bekommen. Was wiederum zu einer Selbstbestärkung und schließlich zu einer Radikalisierung führt. Also dieses selbstreferentielle Kommunizieren, die Möglichkeit im Grunde gar nicht mehr auf professionelle Medien zurückgreifen zu müssen. Wodurch die ganze Funktion des Filterns und Einordnens von Informationen wegfällt – abgesehen davon, dass es ja häufig auch einfach Fakes sind, die ein Eigenleben führen, und nicht mehr einzufangen sind: Menschen glauben das, was sie glauben wollen. Hinzu kommen sprachlichen Verrohung, Beschimpfungen und Drohungen, weil die Hürde viel niedriger ist als früher. Man muss nicht mehr die Schreibmaschine auf den Tisch stellen für den Leserbrief an den Herrn Herausgeber und dann zum Briefkasten laufen. Das ist Lichtjahre her. Heute kann jeder ganz schnell und einfach Dampf ablassen, beschimpfen, drohen. Und das ganze noch dazu anonym, wenn man will. Journalisten und Politiker berichten von immer wüsteren verbalen Drohungen und einer Radikalisierung, die – und das ist der letzte Schritt – immer mehr aus dem Internet und aus dem Verbalen ins Tatsächliche überschwappt.

Man hat den Eindruck, dass es rechtspopulistischen Parteien viel besser gelungen ist, sich dieser neuen Medien zu bedienen.

Richtig, das ist ein Problem. Aber ich denke, dass die etablierten Parteien inzwischen erkannt haben, dass sie hier Defizite haben. Auch da spielt rein, dass der populistische Zuruf, die Verstärkung, über diese Foren leichter zu machen ist, als ernsthaft zu informieren und differenziert zu debattieren. Aber die etablierten Parteien müssen hier definitiv besser werden und Strategien entwickeln, um die Möglichkeiten, die diese Medien bieten, zu nutzen. Man muss natürlich auch verhindern, dass sich diese menschenfeindlichen Äußerungen, dieser blanke Rassismus in den sozialen Medien ungehindert ausbreitet. Man muss die Standards verändern. Man darf diese Plattformen auf keinen Fall den Rechten überlassen, sondern muss reingehen und dagegen ankämpfen. Alles andere wäre fatal.

Die Gewaltbereitschaft – Stichwort Angriffe – ist gestiegen…

Laut der Website „Mut gegen rechte Gewalt“ hat es in diesem Jahr in Deutschland bereits 506 Angriffe auf Asylunterkünfte gegeben, davon 75 Brandanschläge und 222 Körperverletzte. Die Zahlen steigen seit 2014 immer weiter an. Das heißt: Wir haben es nicht nur mit einer verbalen Radikalisierung, sondern tatsächlich mit mehr Gewalt zu tun, ganz real, - es schlägt durch. Wir haben Polarisierung und Radikalisierung an allen Fronten.

Vom Denken und Schreiben in die Tat – das ging zuletzt sehr schnell. Es hieß immer „Wehret den Anfängen“ – ist es schon zu spät?

Auch hier sehen wir die Beschleunigung – so wie überall, in der Politik, im Medienbetrieb, in der Kommunikation. Ich glaube, diese Flüchtlingskrise ist nicht die Ursache, sondern wirkt als Katalysator und verstärkendes sowie die Prozesse beschleunigendes Element. Als Friedrich-Ebert-Stiftung betonen wir immer, dass diese Einstellungen ein Problem der Mitte der Gesellschaft sind. Das sagen wir seit Langem, und darum nennen wir unsere Studien auch „Mitte-Studien“ – denn rechte Einstellungen gibt es nicht nur am rechten Rand. Jetzt ist eine Situation da, in der sich das besonders und beschleunigt und extrem niederschlägt. Denn die Flüchtlingssituation ist natürlich eine Steilvorlage für die Rechtspopulisten, um auf diesen Zug aufzuspringen. Das tun sie, um ihr Süppchen zu kochen und Ängste zusätzlich anzufachen. Da stecken wir mitten drin. Nicht nur in Deutschland und Österreich – europaweit, weltweit. Das Trump-Phänomen in den USA ist ganz ähnlich: Teile der Mittelschicht, insbesondere der unteren Mittelschicht, haben Abstiegsängste, sie fürchten individuelle aber auch kollektive Schlechterstellung. Sie haben Angst vor Statusverlust. Und all das mündet in eine Art populistisches Establishment-Bashing, in den Zulauf für so absurden Figuren wie Donald Trump, begleitet übrigens von zunehmender Aggressivität. Da kommt noch einiges auf uns zu, fürchte ich.

Das heißt, die Entwicklung hat kein absehbares Ende?

Nein, ich fürchte nicht.

Gibt es von Ihrer Seite auch Lösungsszenarien?

Es braucht einen langen Atem. Man muss versuchen - da wo man noch durchdringt - mit Information und politischer Bildung diesen Fehlinformationen, etwa aus dem Netz, zu begegnen. Man muss darauf hinweisen, dass - bei allen positiven Möglichkeiten, die das Netz bietet -, es auch viele negative Begleiterscheinungen gibt. Dass da viel Unsinn und Verschwörungstheorien im Umlauf sind. Medienkompetenz ist ein wichtiger Punkt, also der bewusste Umgang mit Quellen – gerade bei jungen Menschen. Kritisches Bewusstsein im Umgang mit Informationen, angepasst an die heutigen Verhältnisse. Politische Bildung, Sensibilisierung, Information. Das ist ein Langzeit-Projekt, klar. Darüber hinaus ist es wichtig, von einem klaren eigenen Standpunkt aus zu agieren. Man darf auf keinen Fall die Positionen der Rechten irgendwie kopieren oder glauben, durch eine kurzfristige Taktik des Nach-dem-Munde-Redens oder Anbiederns etwas erreichen zu können. Das ist sehr gefährlich. Man braucht sich nur in Europa umzuschauen: Über kurz oder lang nutzen solche Anbiederungsversuche immer den Rechten.

Man darf sich aber auch kein Illusion machen: An einen bestimmten Teil von Menschen, die zum harten Kern der rechtspopulistischen Gefolgschaft gehören, wird man wohl nicht mehr herankommen. Aber der Kampf um jeden Einzelnen, der noch erreicht werden kann, ist entscheidend: Und ich bin davon überzeugt, dass man viele Menschen zurückgewinnen kann für die Demokratie und für Partizipation. Natürlich ist auch unser System nicht perfekt. Es gibt Defizite. Nicht alles läuft super. Auch Politiker machen Fehler. Es sind Menschen. Aber in diesem demokratischen System hat jeder einzelne sehr viele Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen. Und es reicht eben nicht, montags auf die Straße zu gehen und zu rufen „Wir sind das Volk“. Die Erwartung, dass Politik bedeutet, meine eigene Vorstellung eins zu eins und möglich sofort umzusetzen, ist ein Irrtum. So funktioniert Demokratie nicht. Man muss daher verstärkt Demokratiebildung betreiben und Konsensbildungsprozesse erklären: Dass sich aus Meinungsvielfalt Mehrheiten herausbilden. Aber was will man Leuten sagen, die heute in Dresden auf der Straße „Putin hilf“ rufen und sich russische Verhältnisse in Deutschland wünschen? Da ist man vor allem eines: fassungslos.

Der KURIER geht jetzt gegen Hasspostings vor. Anlass war ein Artikel auf kurier.at: Weil sie Gratis-Schwimmkurse für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge anbietet, erntete die Kärntner Wasserrettung einen Shitstorm. Bei einem Einsatzfahrzeug wurde eine Scheibe eingeschlagen. Als der Artikel auf Facebook gestellt wurde, postete eine Userin darunter, die Flüchtlingskinder meinend: "Dann sollns halt ersaufen!!!!" Das Posting wurde zur Anzeige gebracht.

Schwerpunkt auf kurier.at

In den kommenden Wochen wird das Thema "Gegen Hass im Netz" auf kurier.at im Fokus stehen. Diskutieren Sie mit, erzählen Sie uns Ihre Erfahrungen und sagen Sie uns, wie Sie mit der Wut im Netz umgehen.

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