ORF-Interview mit "frischem" Gross könnte Folgen haben

Artikel vom 23. 3. 2000: Ehemaliger NS-Arzt wirkte im TV "verhandlungsfähig" / Richter überlegt neue Untersuchung

Nachdem der Mordprozess geplatzt war, saß Heinrich Gross im Kaffeehaus, aß Kuchen und gab der "ZiB 2" ein bemerkenswertes Interview: "Ich glaube, man könnte mir nichts nachweisen." Der wegen fortgeschrittener Verkalkung für "verhandlungsunfähig" erklärte 84-jährige ehemalige NS-Arzt wirkte überraschend fit, und als ihn die ORF-Reporterin fragte, ob ihm "Am Spiegelgrund" denn nicht die Leiterwagerln mit den toten Kindern aufgefallen waren, da antwortete er: "Nein." Und ergänzte: "Das mit den Leiterwagerln" werde (nur) von einem Zeugen behauptet . . .

Heinrich Gross zeigte im TV, dass er durchaus in der Lage ist, Zusammenhänge herzustellen. Er verteidigte sich! Genau diese Fähigkeiten waren ihm aber kurz zuvor nach dem Gutachten des Psychiaters Reinhard Haller mit Gerichtsbeschluss abgesprochen worden: Der Angeklagte sei nicht in der Lage, der Verhandlung zu folgen bzw. seine Rechte wahrzunehmen. Auch Prozessvorsitzender Karlheinz Seewald ist irritiert.

Er überlegt, Gross` Verhandlungsfähigkeit schon bald noch einmal prüfen zu lassen. Wer ihn kennt, weiß, dass das keine leeren Worte sind. Das Mordverfahren ist offiziell nicht beendet. Außerdem ist noch ein Verfahren gegen den Primarius offen!

Die Staatsanwaltschaft Wien hatte, zusätzlich zur Mordanklage, die Wiederaufnahme des Totschlag-Verfahrens aus dem Jahr 1948 beantragt. Im Oberlandesgericht wird der Senat 23 in den nächsten Wochen darüber entscheiden.

Gross war am 29. März 1950 vom Volksgericht zu zwei Jahren Kerker verurteilt worden: Wegen Totschlags, denn die Justiz ging damals davon aus, dass an Geisteskranken und -schwachen kein heimtückischer Mord begangen werden könne, da den Betroffenen "die Einsicht fehlte".

Wegen Widersprüchlichkeiten hob der OGH das Urteil auf, und aus noch immer nicht geklärten Gründen zog die Staatsanwaltschaft den Strafantrag zurück, so dass das Verfahren am 25. Mai 1951 eingestellt wurde. Gross konnte als unbescholtener Bürger Karriere machen.

 

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