Ober-Piratin: "System in der Sackgasse"

Ober-Piratin: "System in der Sackgasse"
Sie entern in Deutschland gerade Landtag um Landtag und sind in aller Munde. Marina Weisband, das schöne Gesicht der jungen Partei, im Interview.

Ein Stück hinter der Oranienburger Straße, dort wo Berlin-Mitte ein bisschen schäbig wird und die Ost-Vergangenheit noch nicht zu trendigem Charme gefunden hat, liegt das Hauptquartier der Piratenpartei. In unmittelbarer Nachbarschaft wird der monströse Neubau des Bundesnachrichtendienstes hochgezogen. Das passt als Kontrapunkt gut: Alles offen, alles frei zugängig, vor allem im Internet, ist die Devise – Geheimnistuerei ist die Sache der Piraten nicht.

Die Parteizentrale besteht gerade einmal aus zwei Zimmern, in denen es aussieht wie in einer Studenten-WG. Stapel von Foldern und der Piratenzeitung Kaperbrief liegen herum, auf dem Sofa wird geschlummert, und ein paar Piraten sitzen mit Wasserflaschen vor ihren Laptops und staunen: Von hier aus haben sie es im September mit 8,9 Prozent in den Berliner Landtag geschafft, vergangenen Sonntag gelang ihnen das Kunststück mit 7,4 Prozent auch im Saarland – von den Erstwählern stimmten gar 23 Prozent für die Piraten.

"Unsere Parteizentrale ist eben das Internet", sagt einer der Piraten und tippt weiter an seiner Dissertation. "Und es würde mich wundern, wenn wir es in Schleswig-Holstein und Nordrhein Westfalen (Wahlen im Mai, Anm.) nicht auch schaffen. Bald haben wir mehr Abgeordnete als Mitglieder." Was nicht stimmt, denn inzwischen gibt es mehr als 22.000 Piraten.

Und just in dieser Fahrt unter vollen Segeln verlässt das Gesicht der Partei, Marina Weisband, das Piratenschiff. Die 25-jährige Geschäftsführerin zieht sich zurück, weil sie ihr Psychologie-Studium fertig machen will. Dann kommt sie vielleicht wieder – und wahrscheinlich gleich in den Bundestag.

KURIER: Hand aufs Herz, haben sie mit dem zweiten Einzug in einen Landtag gerechnet? Marina Weisband: Ich habe damit gerechnet, aber dass es so ein gutes Ergebnis wird, wusste ich nicht.

Zwei Landtage geentert, zwei stehen vor der Tür, und Sie ziehen sich zurück, um Ihr Studium fertig zu machen – haben Sie das Amt des Politikers unterschätzt? Ich muss Diplom machen und trete einfach nicht für eine zweite Amtszeit an. Das ist bei uns ganz normal und war auch nie anders geplant. Bei mir überrascht das die Leute nur, weil ich relativ erfolgreich bin. Man ist nicht gewöhnt, dass sich jemand freiwillig zurücknimmt.

Sie werden als Gegenmodell zum Berufspolitiker und als das schöne Gesicht der Partei herum gereicht – nervt das? Nein, ich bleibe ja weiter in der Partei und politisch aktiv. Ich habe nur kein Vorstandsamt mehr und muss nicht mehr abstimmen über Zeug und Verwaltungskram.

Was haben Sie in der Zeit als Politikerin gelernt? Viel darüber, wie menschliche Gesellschaft funktioniert; wie wir lernen, woher wir unsere Informationen kriegen; und dass sich die Welt und die Politik verändern wird und muss; dass wir in einem System leben, das bald neue Regeln bekommen wird, weil es in einer Sackgasse ist.

Was für Regeln? Die Rolle des Politikers, der allein Politik macht nicht im Parlament, sondern beim Frühstück oder in Bars, wird sich verändern. Wir werden sehr viel mehr basisdemokratisch werden, ganz automatisch. Nicht, weil sich eine Partei dafür einsetzt, sondern weil sich die Menschen viel besser informieren in letzter Zeit. Ich merke in Schulen, die Jungen sind sehr viel besser informiert als wir es waren.

Ober-Piratin: "System in der Sackgasse"

Sie haben sich nie für Politik interessiert und sind trotzdem in die Politik gegangen. Wieso? Ich war als Migrantentochter immer so auf dem Standpunkt, das sind deutsche Probleme, das ist ja nicht mein Bier. Und Politiker waren halt alte weiße Männer im Anzug, die da in der Tagesschau herumliefen.

Haben Sie gewählt? Nein. Aber als die Piraten kamen, habe ich gesehen, das sind Leute wie ich.

Wie kamen Sie auf die? Wir haben uns irgendwann Videos zur Europawahl angesehen, und das der Piraten war das erste, über das ich mich nicht lustig gemacht habe. Und bei der Bundestagswahl hat mich meine Regisseurin nach der Theaterprobe zum Wählen mitgenommen, und ich habe mein Kreuz bei den Piraten gemacht. Und aus der Euphorie heraus bin ich am selben Tag bei ihnen Mitglied geworden.

Pirat ist eigentlich ein Räuber, der auch vor Mord und Totschlag nicht zurückschreckt – ist das ein guter Name für eine Partei? (lacht) Der Name klingt erst mal negativ besetzt. Aber die ersten Piraten wurden ja von anderen so genannt. Und sie beschlossen, das ist zwar ungerecht, aber jetzt nennen wir uns so lange selbst Piraten, bis der Name auch mit ehrlicher Politik assoziiert wird. So wie das Wort schwul so lange verwendet wurde, bis es kein Schimpfwort mehr war.

Sagen Sie mir doch in drei Sätzen, was das Programm der Piraten ist. Alles was mit Informationsfluss zu tun hat, zu verbessern; Transparenz als Fluss aus der Politik, Bürgerbeteiligung als Fluss in die Politik; Bildung als Verbesserung des Flusses; und sozialliberale Positionen, das heißt, jeder soll möglichst frei sein, auch die Ärmeren.

Aha. Hauptthema war zunächst aber die Freiheit im Internet. Die Piraten kämpfen gegen Acta, das Urheberrerchtsschutzabkommen fürs Netz – was ist so schlimm an Urheberrechtsschutz? Wir wollen das Urheberrecht sogar stärken.

Im Internet? Gerade im Internet, weil wir uns dort immer in einer halblegalen Lage befanden. Wir müssen regelmentieren, wenn etwas plötzlich so leicht kopier- und teilbar ist. Daher müssen wir die Modelle des Urheberrechts reformieren. Es kann nicht sein, das der Erfolg des Urhebers immer von der Einzelkopie abhängt. Der Urheber muss sehr viel besser Kontrolle über sein Werk haben, auch dem Verwerter gegenüber. Das heißt, der Verwerter müsste sehr viel öfter Rücksprache mit dem Urheber haben, und der müsste auch mehr dafür verlangen können. Dafür müsste der Verwerter zum Beispiel einen Song mit einem Klick herunterladen können und kann ihn dann frei privat kopieren.

Und dann wird auf Tauschbörsen damit gehandelt, und der Urheber hat nichts davon. Tauschbörsen muss man legalisieren, weil man kann gar nichts dagegen tun. Aber die sind meistens unbequemer und werbeverseucht, als wenn man auf einer Kaufplattform kauft.

"Jeder Versuch, der bürgerlichen Eigentumsordnung auch im Internet Gültigkeit zu verschaffen wird von den Netzfundamentalisten als Einschränkung ihrer Grundrechte verstanden" schreibt der Spiegel. Nein, das ist nicht so. Man versucht nur immer, Eigentum mit den falschen Mitteln durchzusetzen. Etwa durch Kopierschutz – was ist Kopierschutz, das ist doch nur eine künstliche Verknappung, obwohl mit der neuen Technologie doch so viel an Verbreitung möglich ist. Oder man versucht es mit Zensur-Infrastruktur wie Acta, überwacht alles – und das ist ein Eingriff in die Bürgerrechte. Man muss doch mit der Technik gehen und dann die Menschen dazu animieren, dass sie sich richtig verhalten.

Aber würden Sie als Autorin vom Verkauf von Büchern leben, hätten Sie auch ein Interesse daran, dass ihr Buch nicht irgendwo getauscht, sondern gekauft wird. Ich hätte absolut ein Interesse daran, dass das getauscht wird. Sie denken an die großen Autoren, die von ihrer Kunst leben können. Aber die meisten Künstler sind doch total unbekannt, wie sollen sich die denn verbreiten, wenn nicht über sowas? Das ist doch kostenlose PR.

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Zurück zur Politik: Die Grünen standen vor 30 Jahren dort, wo jetzt die Piraten stehen, mit ähnlichen Anliegen wie Bürgerbeteiligung. Was ist der Unterschied? Wir sind sehr verschieden. Die Grünen sind eine bevormundende Partei, die sagen, es gibt einen richtigen Weg zu leben. Die Piraten sagen, es gibt in der Gesellschaft keinen richtigen Weg zu leben, weil wir alle so verschieden sind. Wir möchten gerne den Menschen Freiheiten einräumen, ob bei ihrer sexuellen Orientierung oder bei ihrem Nahrungskonsum oder wie sie sich fortbewegen. Wir wollen die Menschen aufklären, was gut ist, aber die Verantwortung müssen die Menschen selbst übernehmen.

Und in der Partei sollen dann alle per Mausklick gleichberechtigt entscheiden – birgt das nicht die Gefahr, dass sich 10.000 als Piraten melden und eine Position durchsetzen, die gar nichts mit der der Piraten zu tun hat? Niemand hat das Potenzial, 10.000 Menschen zu mobilisieren ...

Okay, das war auch hypothetisch. Ja eben. Praktisch kommen Piraten immer einzeln oder in kleinen Gruppen, wenn man sich mit den Piraten identifiziert. Bisher hat das super funktioniert, jetzt kommen plötzlich Wirtschaftsexperten dazu ...

Apropos: In Zeiten der Krise wollen die Menschen genau darauf Antworten. Haben Sie die? Waren die Piraten zum Beispiel für die Finanztransaktionssteuer? Das ist eine Diskussion, die bei uns tobt. Wir haben uns in vielen Feldern noch nicht für eine konkrete Antwort entschieden, weil wir immer noch abwägen, welche die bessere ist. Wir haben sehr konkrete Antworten auf Fragen, die sich mit Zukunftsthemen beschäftigen, mit der Wissensgesellschaft. Aber wir haben ja nicht damit gerechnet, dass wir jetzt schon in zwei Landesparlamenten sitzen.

Das heißt, der Erfolg und die Forderung nach Expertise auf allen Gebieten kommt zu früh? Für meinen Geschmack ja. Deswegen haben wir eher Antworten, die in vier Jahren relevant werden, und ziehen jetzt die Antworten nach, die jetzt relevant sind.

Berühmt wurde ja das Nichtwissen des Piratenchefs auf die Frage nach dem Berliner Budgetdefizit. War Ihnen das peinlich? Das beschreibt die Piraten ganz gut. Man warf uns vor, ihr wisst ja nicht, wie viel Schulden es gibt – das kann man ja nachschlagen. Prozesse, wie man solche Schuldenberge vermeidet, das kann man nicht nachschlagen.

Aber die Antwort darauf haben Sie auch nicht. Wir haben Geld wie eine 0,2-Prozent-Partei, wir haben das Programm und die Strukturen einer 2,0-Prozent-Partei, aber wir haben die Erwartungshaltung der Bevölkerung wie für eine 10-Prozent-Partei. Damit müssen wir gerade leben.

Ein junger Wähler, der wissen will, ob die Piraten für eine höhere Besteuerung von Vermögen oder für eine EuropaRegierung sind, bekommt also keine Antwort? Wir sind für eine Europa-Regierung. Bei der Steuer bekommt er noch keine definitive Antwort. Tendenziell eher ja, wir wollen ja auch auf das bedingungslose Grundeinkommen hinarbeiten.

Sie sind für das Grundeinkommen, gleichzeitig für die Einhaltung des Fiskalpaktes ... Nein, das haben wir glaube ich nicht gefordert. Aber was scheinbar nicht zusammenpasst ist, dass wir nicht für die Begrenzung der Managergehälter sind. Aber zum Grundeinkommen: Das macht Menschen freier, macht sie unabhängiger von ihrem Arbeitgeber und erlaubt auch armen Menschen zu tun, was sie für ihre Berufung halten. Das bedingungslose Grundeinkommen ist auch eine Belohnung all der Arbeit, die wir zur Zeit gar nicht als Arbeit definieren, etwa wenn jemand Angehörige pflegt, Kinder erzieht, freie Software erstellt.

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Aber freien Drogenkonsum fordern und kein Wirtschaftsprogramm haben, da schreibt die "Zeit": "Die Piraten machen alles falsch, was man falsch machen kann, und werden trotzdem gewählt, oder deshalb". Also was jetzt? Die Piraten werden trotz fehlenden Wirtschaftsprogramms gewählt. Wir sagen auch nicht Freiheit des Drogenkonsums, sondern Legalisierung. Die aktuellen Gesetze sind nicht zeitgemäß und können nicht durchgesetzt werden.

Hat das Amt die Piratenpartei verändert? Ich weiß es noch nicht. Wir haben viel zu schnell Mitglieder erworben, auch wenn ich mich darüber freue, aber ich weiß jetzt nicht, ob die neuen Piraten genauso sind wie die alten, wie sie sich in die Strukturen einfügen. Und Leute für die Spitze zu rekrutieren ist sehr schwierig – wir sind ja auch ein paar mal auf die Nase gefallen, weil obskure Leute in den Vorständen waren. Aber es wird immer besser. Auch wenn wir im Wahlkampf immer noch auf Sofas schlafen, unglaublich selbstorganisiert sind, da hat sich nichts geändert.

Ziel ist es, die Piraten überflüssig zu machen, lautet ein Slogan – wann ist das erreicht? Wenn alle Parteien unsere Programmpunkte und unsere Prozesse aufgenommen haben.

Also nie. Es ist zumindest utopisch.

Politiker facebooken und twittern inzwischen überall. Sie haben auch ganz Privates ins Netz gestellt – warum? Nicht wirklich Privates, sondern Persönliches. Weil ich mein Politiker-Sein nicht vom Mensch-Sein trenne. Ich stelle ins Netz, was ich schon immer ins Netz gestellt habe. Wir brauchen mehr Menschen in der Politik. Solche, die auch mal zu spät kommen, fluchen, Gefühle zeigen. Die nicht zu zeigen, heißt etwas verbergen, und das kostet Vertrauen.

"Es müsste eine Art Twitter geben, das nicht gleichzeitig als journalistische Quelle herhält", haben sie getweeted. Doch schon alles zu viel? (lacht) Wenn man 20.000 Follower hat und man weiß, jeder Tweet könnte in der Zeitung stehen, ändert sich natürlich schon einiges. Dann twittert man auch ein bisschen anders, ein bisschen weniger leichtsinnig.

Nach ihrem Diplom kehren Sie wieder in eine Piratenfunktion zurück? Vielleicht, ich werde auch während der Diplomarbeit politische Arbeit machen, und wenn ich fertig bin, kann ich mir vorstellen, wieder für einen Vorstandsposten oder den Bundestag zu kandidieren – oder ich gehe in die Psychologie und mache eine Therapieausbildung.

Also wo sind sie in zehn Jahren: In der Politik oder in der Psychotherapie? Keine Ahnung, vielleicht auch Journalist oder Astronaut.

Die ersten Piraten träumen schon von einer Regierungs-Mitverantwortung. Also dem würde ich widersprechen, das wäre für uns deutlich zu früh. Wir müssen erst mal mit uns selbst klar kommen. Wir sind eine super Oppositionspartei, weil wir die richtigen Fragen stellen. Als Koalitionspartner sind wir außerdem nicht attraktiv.

Warum? Weil wir keinen Fraktionszwang haben und man sich mit uns nie auf eine Mehrheit verlassen könnte. Und weil wir alles würden öffentlich machen wollen.

Zur Person: Künstlerin, die nicht von der Politik abhängig sein will Marina Weisband, am 4. Oktober 1987 in Kiew geboren, wuchs in der Ukraine auf und kam mit ihren Eltern 1997 (Kontingentflüchtlinge) nach Wuppertal. Nach dem Abitur begann die freischaffende Künstlerin (Zeichnungen, Gemälde) ein Psychologiestudium in Münster, wo sie auch lebt. 2009 trat sie, die sich nach eigenem Bekunden nie für Politik interessierte, der Piratenpartei bei, in der sie 2011 Politische Geschäftsführerin und so etwas wie das Gesicht der Partei nach außen wurde. Dass sie auf Twitter Privates wie Berufliches gleichermaßen veröffentlichte, sorgte für Diskussionen im politischen Feuilleton. Beim Parteitag im Mai wird sie sich aus ihrer Funktion zurückziehen, aus gesundheitlichen Gründen und weil sie ihr Studium fertig machen will, um nicht von der Politik abhängig zu sein. Antisemitische Anfeindungen, die es gab, seien kein Grund. Die Rückkehr in die Politik ist geplant.

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