Menasse: "Nationalismus, die kriminelle Energie"

Menasse: "Nationalismus, die kriminelle Energie"
Der österreichische Schriftsteller fordert in seinem neuen Buch, dass Politiker aus der Krise heraus die neue EU schaffen und den Nationalstaat überwinden.

Robert Menasse hat ein knappes Jahr im Zentrum der Europäischen Institutionen gelebt, das er den "Maschinenraum" nennt. Was er in Brüssel beobachtet und erfahren hat, liegt ab 24. September als spannendes Buch mit dem Titel "Der Europäische Landbote" vor. Der KURIER hat das Buch vorab gelesen.

KURIER: Herr Menasse, Sie waren EU-Skeptiker, was ist in Brüssel mit Ihnen passiert?

Robert Menasse: Ich habe Erfahrungen gemacht und Einsichten gewonnen. Das Buch ist der Bericht eines Lernprozesses und der Versuch, darüber nachzudenken, was die Arbeit der europäischen Institutionen für unser Leben und unsere Zukunft bedeutet – und was ein Scheitern des europäischen Projekts bedeuten würde. Ich hatte Vorurteile, kritische Vorbehalte, Skepsis, wie sie ja viele haben, die sich für die EU interessieren.

Ist die Skepsis jetzt weg?

Nein, nicht ausgeräumt, sondern geändert. Ich kann die Kritik jetzt präziser formulieren. Aus der Ferne sah ich Brüssel als Synonym für die Politik der EU. Als wäre Brüssel ein riesiger Apparat, in dem weltfremde Beamte sich zweifelhafte Dinge ausdenken. Dieses Brüssel existiert nicht. Die europäischen Institutionen sind kein geschlossener Apparat, es gibt Konflikte zwischen den Institutionen, Widersprüche und Interessensgegensätze. Die gegenwärtige Krise ist ein Symptom dieser noch nicht gelösten Widersprüche.

Was ist der Widerspruch oder der Machtkampf zwischen Kommission und Rat?

Ja, das ist der Hauptwiderspruch. Die Kommission steht für gemeinsame Regelungen und EU-Gesetze. Sie ist die Institution, die die Überwindung des Nationalismus voranzutreiben versucht, was ja die Idee der EU ist. Der Rat verteidigt nationale Interessen, im Grunde verteidigt der Rat die Bedürfnisse der nationalen politischen und wirtschaftlichen Eliten. Und es ist dieser Widerspruch, der dazu führt, dass die Europa-Politik knirscht und kracht und Krisen produziert, die nicht lösbar sind, solange dieser Widerspruch nicht gelöst ist.

Der Kampf zwischen den Institutionen ist aber wirklich nicht schuld an den Schulden Griechenlands?

Doch. Die Krise ist nicht griechisch, sie ist zuallererst europäisch. Der Widerspruch zwischen Rat und Kommission bedeutet: Es gibt eine nationale und eine europäische Brille. Betrachtet man die Finanzkrise durch die nationale Brille, ist sie riesig, und jeder Nicht-Grieche ist zu Recht wütend: Diese kleine Nation mit ihrer unbedeutenden Ökonomie hat Schulden angehäuft, deren Rückzahlung sie nie erwirtschaften kann.

Und warum sollen andere Länder dafür gerade stehen?

Betrachtet man das Problem durch die europäische Brille, ist es verschwunden. Da geht es um zwei Prozent des Bruttosozialprodukts der 27 EU-Staaten. Kalifornien wäre froh, nur diese Schulden zu haben. Die Krise ist in Wahrheit diese: Wir haben eine gemeinsame Währung eingeführt, ein riesiger Erfolg. Aber die Staats- und Regierungschefs im Rat haben aus nationalen Egoismen verhindert, dass der Euro mit einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik verbunden wird. Die Kommission hat davor gewarnt, sie konnte sich gegen die Nationalstaaten aber nicht durchsetzen.

Sie sind ein Fan der Krise?

Ja, weil sie jetzt zu Entscheidungen zwingt, die vorher verhindert wurden. Die Krise kann nicht gelöst werden, wenn man die politisch-institutionellen Widersprüche der EU nicht löst. Die Krise wird dazu zwingen, nationale Widerstände zu überwinden und Probleme in Europa auch europäisch zu lösen. Wir erleben, wie schnell nationalistische Ressentiments entstehen – die "faulen Griechen", die "korrupten Griechen". Alles, was Nationalstaaten zu mehr Souveränitsabgabe zwingt, jetzt in Hinblick auf Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalpolitik und Bankenkontrolle, drängt die Nationalstaaten zurück. Irgendwann werden sie absterben – dann ist auch der Nationalismus besiegt, also die kriminelle Energie, die Europa schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt hat.

Man braucht doch eine nationale Identität, oder?

Viele glauben, dass sie das brauchen. Aber worin zeigt sie sich? Beim Sport und bei der Wetterkarte. Was habe ich gewonnen, wenn ein Skispringer in Innsbruck siegt, der derselben Nation angehört wie ich? Ich schnelle dann nicht vor Begeisterung aus dem Sessel, um jubelnd im Telemark auf dem Wohnzimmerparkett zu landen. Das ist doch kindisch. Mich interessiert: Rechtszustand, vernünftige Rahmenbedingungen für mein Leben, politische Partizipationsmöglichkeiten am Lebensort, Lebenschancen, soziale Sicherheit und Friede – und diese Interessen teile ich doch nicht nur mit Menschen meiner Nation. Das ist der Gemeinschaftsgedanke.

Verwaltet von Brüssel? Ist das nicht doch zu fern?

Das Paradies ist fern, nicht Brüssel. Solange wir den Hintereingang ins Paradies nicht gefunden haben, sollten wir vernünftige Lösungen für die Organisation des Lebens in unserem Jammertal anstreben. Für alle Souveränität, die wir nach Brüssel abgeben, bekommen wir mehr an Gestaltungsmöglichkeiten unseres Lebens zurück: durch das Subsidiaritätsprinzip, das ist im Lissabon-Vertrag festgeschrieben. Die wahre Identität der Menschen ist geprägt durch die Region, in der sie aufgewachsen sind, nicht durch das Abstraktum Nation.

Ein Europa der Regionen?

Ja. Was bedeutet diese Floskel "Europa der Regionen"? Nicht Griechenland, sondern die Debatte um die nachnationale Demokratie und wie sie funktionieren kann steht an. Ich will diese trostlose Debatte über die Kosten der Krise versachlichen und folgendes diskutieren: Wohin bringt uns diese Krise? Wohin wollen wir? Klar ist: Das, was wir unter Demokratie verstehen, was uns 1945 geschenkt worden ist, ist ein Modell zur Organisation von Nationalstaaten, das ist 19. Jahrhundert.

Wie bewerten Sie die aktuelle EU-Politik Österreichs?

Ich bin entsetzt über Äußerungen des Vizekanzlers, der davon träumt, Griechenland aus der Euro-Zone zu werfen. Gott schütze Europa vor dem, was sich in Österreich "Europapartei" nennt!

BUCHTIPP: Menasse, R.: Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012, 112 Seiten, 12,90 Euro.

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