Wie ich den Staatsvertrag erlebte

Schloss Belvedere, 15. Mai 1955: Figl präsentiert den Staatsvertrag
Persönliche Erinnerungen an den 15. Mai 1955. Und an ein Gespräch mit Bruno Kreisky.

Es ist meine erste Kindheitserinnerung. Wir schreiben den 15. Mai 1955, ich war vier Jahre alt. Und dabei, als Österreich seinen Staatsvertrag bekam. Wie ist das möglich, werden Sie fragen, und hier ist die Antwort: Ich wohnte mit meinen Eltern in der Karolinengasse, die in die Prinz-Eugen-Straße mündet. Die Karolinengasse liegt dem Belvedere gegenüber, in dem Leopold Figl und die Außenminister der alliierten Mächte Österreichs begeisterter Bevölkerung den eben unterzeichneten Staatsvertrag präsentierten.

Tausende Menschen

Die Fenster unserer Wohnung blickten in einen kleinen Garten, aber wir hatten Nachbarn, die in der Prinz-Eugen-Straße wohnten und von deren Fenstern aus man direkt zum Oberen Belvedere hinübersah. Und in dieser Wohnung hielten wir uns am Vormittag des 15. Mai auf. Ich hatte natürlich keine Ahnung, was da vor sich ging, aber ich habe das Bild ganz genau vor mir, als wär’s gestern gewesen. Vor allem beeindruckte mich die riesige Menschenmenge, die vor, neben und hinter dem Belvedere stand. Es waren Abertausende Schaulustige, die sich vom Schwarzenbergplatz bis zum Südbahnhof hinauf drängten, um dieser Stunde beizuwohnen. Und ich habe den Jubel noch im Ohr, der von den Menschen ausging.Ich sehe auch den Balkon vor mir, auf dem einige Herren in dunklen Anzügen standen und den Menschen zuwinkten. Einer von ihnen hielt ein großes Buch in Händen, das er der Menge zeigte – das waren Figl und der Staatsvertrag, wie ich heute weiß.

Zeitzeuge Kreisky

Fast auf den Tag genau 30 Jahre später, im Mai 1985, stand mir einer der letzten der damals noch lebenden Zeitzeugen gegenüber, und er erklärte mir, was ich seinerzeit nicht hatte verstehen können. Es war Bruno Kreisky, der als Staatssekretär im Außenministerium der Unterzeichnung des Staatsvertrags beigewohnt hatte: "Wir von der österreichischen Regierungsdelegation", sagte er, "trafen als erste im Marmorsaal des Belvedere ein, um die alliierten Außenminister begrüßen zu können. Danach nahmen die Minister an einem langen Tisch platz, während ich etwas abseits dahinter stehen blieb. Nun wurde den Außenministern der in vier Sprachen aufgesetzte Vertrag vorgelegt. Einer nach dem anderen unterschrieb, zuerst die Alliierten, dann Leopold Figl. Als alle unterzeichnet hatten, öffneten sich die Flügeltüren zum Balkon und die Minister traten ins Freie. In ganz Österreich läuteten die Kirchenglocken, und die Menschen im Park jubelten mit einer Begeisterung wie ich sie sonst nie erlebte."Kreisky kam auch auf die Vorbereitungen zum Staatsvertrag zu sprechen, "an deren Erfolg Kremlchef Chruschtschow wesentlich beteiligt war, weil er den Mut hatte, den Stalinismus zu beenden und in der Außenpolitik ein konkretes Beispiel brauchte, mit dem er das den Westmächten gegenüber beweisen konnte."Bei den Besprechungen, die hinter den Verhandlern lagen, seien die Österreicher "über alle Parteigrenzen hinweg als Team aufgetreten", erinnerte sich der Altbundeskanzler. Dass die heimischen Politiker, wie gerne kolportiert, die Sowjets mit Wiener Schmäh und großen Mengen an Alkohol zur Unterzeichnung überrumpelt hätten, sei "ein Unsinn", sagte Kreisky, die Verhandlungen fanden in sachlicher Atmosphäre statt.

Schwedischer Agent

Kreisky erzählte auch, wie er davon erfahren hatte, dass es klappen würde. "Bei den Vorverhandlungen in Berlin im Februar 1954 kam ein Schwede, den ich aus meiner Emigration kannte und der für die Engländer als Agent tätig war, in mein Hotel. Er sagte, er hätte Funksprüche aufgenommen, aus denen hervorging, dass wir den Staatsvertrag kriegen. Ich war aber misstrauisch, ob das stimmte."

Nicht sang- und klanglos

Wesentlich mehr Zuversicht zeigte Kreisky, als er mit seinen 44 Jahren als Jüngster der österreichischen Delegation am 11. April 1955 in Moskau landete und dort einen"Großen Bahnhof" vorfand. "Eine Musikkapelle spielte ohne Noten und fast fehlerfrei die österreichische Bundeshymne – was damals sogar kaum ein Orchester bei uns konnte – und die sowjetischen Spitzenfunktionäre waren fast geschlossen auf den Flughafen gekommen, um uns zu empfangen. Da hab’ ich zum Schärf gesagt: ,Adolf, wenn die uns mit soviel Sang und Klang empfangen, werden sie uns nicht sang- und klanglos abreisen lassen.‘"

Kreiskys Optimismus

Kreisky hätte bald nach Inkrafttreten des Staatsvertrags optimistisch in die Zukunft geblickt und an den Aufschwung des Landes geglaubt. "Ich war überzeugt, dass man aus Österreich eine zweite Schweiz machen kann. Das ist in großen Zügen auch gelungen, vielleicht net ganz so, wie sich’s a Bankdirektor vorstellt, aber wir können, glaube ich, zufrieden sein."Es war berührend für mich, der als kleiner Bub am Tag des Staatsvertrags neben dem Belvedere gestanden war, in reiferen Jahren von einem Mann aus erster Hand zu erfahren, was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte.

Die Verhandlungen mit den alliierten Mächten dauerten fast zehn Jahre, wobei die Fragen meist am Standpunkt der Sowjetunion in der Frage des „Deutschen Eigentums“ gescheitert waren: Der Kreml bestand darauf, Rohstoffe, Maschinen und Industrieanlagen als Kriegsentschädigung nach Moskau zu transportieren oder hohe Ablösen einzufordern. Erst 1955 konnte eine Einigung über die Höhe der Reparationszahlungen erzielt werden. Als weitere Erschwernis für eine Einigung erwies sich der Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR.

Wie ich den Staatsvertrag erlebte
Dennoch gelang es der österreichischen Delegation, bestehend aus Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Schärf, Außenminister Figl und Außenamts-Staatssekretär Kreisky im April 1955 auch die Zustimmung der Sowjets und der Westmächte zur österreichischen Neutralität zu erlangen.

15. Mai 1955, 11.30 Uhr

Der Staatsvertrag wurde am 15. Mai 1955 um 11.30 Uhr im Wiener Belvedere von den Außenministern John Foster Dulles (USA) , Harold Macmillan (Großbritannien), Antoine Pinay (Frankreich), Wjatscheslaw Molotow (Sowjetunion) und Leopold Figl unterschrieben. Tausende Menschen, die sich vor dem Belvedere versammelt hatten, brachen in Jubel aus, als die Außenminister den Balkon betraten und Leopold Figl das unterzeichnete Dokument in die Menge hielt.

Mit dem Staatsvertrag war die staatliche Souveränität und die Unabhängigkeit der demokratischen Republik Österreich hergestellt. Als Grenzen wurden jene anerkannt, die bis zum „Anschluss“ an das Deutsche Reich am 12. März 1938 bestanden hatten.

Man einigte sich auch darauf, dass die Besatzungszeit am 25. Oktober 1955 enden und die letzten Kriegsgefangenen nach Österreich zurückkehren würden. Am 26. Oktober 1955 wurde im Nationalrat das Gesetz zur immerwährenden Neutralität Österreichs verabschiedet.

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