Wege durch den Pflege-Dschungel

Vier Hände halten zusammen
Österreichs Pflegesystem ist unübersichtlich und nicht zukunftsfit. Warum? Der KURIER erklärt es.

Ist es fair, wenn Menschen ihr ganzes Hab & Gut veräußern müssen, bevor ihnen die Allgemeinheit einen Platz in einem Pflegeheim finanziert? Nein, antwortete jüngst der Bundeskanzler – und schrieb den Verzicht auf den "Eigenregress" der Betroffenen in den Plan A.

Im novellierten Arbeitsprogramm der Regierung findet sich diese Forderung zwar nicht mehr, aktuell ist sie aber allemal. Denn nachdem der KURIER über die "Streichung" des spannenden Anliegens berichtete, meldeten sich zahlreiche Leser in der Redaktion, mit einer Fülle an Fragen. Das Pflege-Thema betrifft und bewegt gleichermaßen.

Warum und wo gibt es den Regress an Familie und Erben noch? Wieso ist die Situation in jedem Bundesland anders?

Der KURIER beantwortet die wichtigsten und häufigsten Fragen.

Warum werden in Österreich Leistungen wie Spitalsaufenthalte ganz selbstverständlich von der Sozialversicherung bezahlt, Aufenthalte in Pflegeheimen aber nicht?

Die Pflege fällt in Österreich nicht in die Zuständigkeit der Krankenkassen, sondern in die der Länder, wo sie analog zur Sozialhilfe organisiert ist. Das bedeutet: Erst, wenn sich jemand selbst nicht helfen kann, und wenn es keine Kinder oder Ehepartner gibt, übernimmt der Staat die Verantwortung. Experten bemängeln diese Mechanik seit Langem. "Wir müssen heraus aus der Sozialhilfe-Logik, denn sie zwingt die Sozialhilfe-Träger in der Pflege gesetzlich dazu, abgesehen von Freibeträge das Vermögen von Betroffenen zur Finanzierung heranzuziehen. In dem Bereich haben wir de facto eine 100-prozentige Erbschaftssteuer", sagt Peter Hacker, Chef des Fonds Soziales Wien (FSW) zum KURIER.

Wenn jemand in stationäre Pflege muss, wie wird das grundsätzlich finanziert?

Zunächst wird in allen Bundesländern Vermögen bzw. Einkommen der Betroffenen geprüft. Vielfach ist eine Pension vorhanden bzw. wird Pflegegeld ausbezahlt. Diese "Einkünfte" finanzieren einen Teil der Kosten, wobei etwa die Pension nicht zur Gänze, sondern meist nur zu 80 Prozent einbehalten wird. Ähnliches gilt beim Vermögen: Je nach Bundesland gibt es unterschiedliche Freibeträge, sprich: ein Teil des Vermögens bleibt beim Betroffenen. In Wien liegt die Freigrenze bei 4000 Euro, in Vorarlberg bei 10.000 Euro – und in Niederösterreich bei mehr als 12.000 Euro. Hat jemand Vermögen vererbt oder verschenkt, ist – gemessen am ersten Tag des Pflegebedarfs – rückwirkend ein Regress bei Beschenkten und Erben möglich. In Wien gilt für Erben eine Zehnjahres-, für Beschenkte eine Dreijahresfrist (Freibetrag 3000 Euro). In den anderen Bundesländern können Erben und Schenkungen ebenfalls 3 bis 5 Jahre nach dem Pflegebedarf herangezogen werden.

Müssen Ehe-Partner die Pflegekosten zahlen?

Das hängt vom Bundesland ab. In Wien, Kärnten, Niederösterreich und der Steiermark wurde der Pflege-Regress an Ehepartnern abgeschafft. Das bedeutet: In diesen Ländern wird auf das Vermögen eines Ehepartners nicht zurückgegriffen. Sehr wohl wird mitunter ein allfälliges Lohn- oder Pensionseinkommen herangezogen. In Wien müssen Ehepartner bis zu 30 Prozent ihres Einkommens für Pflege aufwenden.

Müssen Kinder immer für den Pflegeplatz der Eltern bezahlen?

Ja und Nein. In der Bundeshauptstadt zum Beispiel gibt es seit Jahrzehnten keine Rückansprüche an Verwandte in absteigender Linie (Kinder, Kindeskinder, etc.). Das gilt allerdings nur, wenn die zu Pflegenden offiziell Kunden der Stadt sind. Unabhängig davon gibt es in allen Ländern die Möglichkeit, sich privat in ein Pflegeheim einzumieten. Und hier kann sehr wohl der Fall eintreten, dass der Betreiber von den Kindern Geld fordert. Das ist sogar gesetzlich gedeckt, denn die moralische Verpflichtung, sich um die Eltern zu kümmern ist im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch schriftlich festgehalten. In § 234 heißt es: "Das Kind schuldet seinen Eltern und Großeltern unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse den Unterhalt, soweit der Unterhaltsberechtigte nicht imstande ist, sich selbst zu erhalten, (...)."

Ist Österreichs Pflegesystem zukunftsfit?

Nein – und das hat viele Gründe. Der wesentlichste ist, dass das Pflegesystem in jedem Bundesland anders organisiert ist. Wie der Rechnungshof mehrfach kritisiert hat, gibt es in Österreich keine "fundierte Strategie zur Bedarfsdeckung" – und das, obwohl laut Budgetprognose die öffentlichen Ausgaben für die Pflege bis ins Jahr 2060 von derzeit 1,8 % auf 3,4 % des BIP ansteigen.

Insgesamt zahlt die öffentliche Hand über 4 Milliarden Euro in das System der Alten- und Krankenpflege, die Österreicher steuern aus privater Tasche weitere 1,2 Milliarden Euro im Jahr bei – und haben trotzdem keine Mitsprache bzw. Übersicht über Qualität und Tarife. So stellte der Rechnungshof etwa fest, dass es nur in Tirol 290 (!) verschiedene Tarife für Heimplätze gibt, was zu Preisunterschieden von bis zu 669 Euro im Monat führt. Die Lösung: eine umfassende Reform, bei der alle Bereiche – vom Pflegegeld über den Pflegefonds bis hin zur generellen Zuständigkeit der Länder – neu geregelt werden.

Wo kann ich als Familie oder Betroffener Hilfe bekommen?

In Wien ist das FSW-Kundentelefon täglich unter 24524 erreichbar. Österreichweit: die Service-Hotline des Sozialministeriums unter 01 71100 – 86 22 86.

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