"Van der Bellen ist ein Opfer wie Hofer"

Die 14 Höchstrichter stehen vor einer schwierigen Entscheidung.
Nach den Anwälten der Blauen und Grünen sind nun die Höchstrichter am Wort. Ihr Urteil wird frühestens nächste Woche erwartet. Immer mehr spricht dafür, dass sie die Stichwahl aufheben.

1927, das ist lange her, aber diese Jahreszahl könnte die Weichen für ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zur Wahlanfechtung stellen. Da gab es eine Bezirksvertretungswahl in Wien, erzählt Höchstrichter Johannes Schnizer bei der Fortsetzung der Verhandlung am Mittwoch – im Jahr 2016. 1927 wurden Wahlunterlagen nach der Auszählung von Unbefugten geöffnet.

Höchstrichter war damals Hans Kelsen, "Vater" der Verfassung. "Auch damals wurde ein Beweisverfahren durchgeführt, Zeugen wurden einvernommen. Und auch damals wurde kein Missbrauch festgestellt." Und dennoch sei die Wahl aufgehoben worden, weil die bloße Möglichkeit bestand, zu manipulieren.

"Was unterscheidet den damaligen Fall von diesem hier?", fragt Schnizer in Richtung des Juristenteams von Alexander Van der Bellen. Rechtsanwältin Maria Windhager schluckt erst einmal, bevor sie wortreich antwortet. Ihr Punkt ist: Es gebe ja einen Entscheidungsspielraum.

Die Grünen glauben nämlich, dass der VfGH die Wahl nicht aufheben müsse, weil "spekulativ-hypothetisch" manipuliert hätte werden können. Man könne das Ergebnis gelten lassen, weil keiner der 67 Zeugen, die vergangene Woche befragt worden waren, auch nur den leisesten Verdacht für einen Wahlbetrug äußerte.

"Das ist so, als würde eine Leiche am Boden liegen, und alle umstehenden Personen sagen, sie hätten niemanden sterben gesehen. Die Leiche ist aber trotzdem da", hält FPÖ-Anwalt Michael Rohregger dagegen. Konter von Grünen-Anwalt Georg Bürstmayr: "Es riecht nicht einmal nach einer Leiche."

Alleine diese Metapher zeigt: Diametraler könnten die Stellungnahmen der Parteienvertreter vor dem Höchstgericht nicht sein.

Reicht es aus?

Die Anwälte der Freiheitlichen, allen voran Ex-Justizminister Dieter Böhmdorfer, halten an der strengen Judikatur fest: "Wir glauben, dass Wahlgesetze gebrochen wurden." Die Wahl müsse also aufgehoben werden. Die Anwälte Van der Bellens halten es "nicht einmal für denkmöglich", dass die Rechtswidrigkeiten das Ergebnis beeinflusst haben.

Und genau darum geht es in der Entscheidung, die das Höchstgericht bis 6. Juli treffen soll. Reicht das, was in der vergangenen Woche an haarsträubenden Gesetzesbrüchen von Zeugen vorgetragen wurde, für eine Wahlaufhebung? Und muss auch das ganze Briefwahlgesetz repariert werden? Böhmdorfer ist davon überzeugt, und nutzt die Zeugenaussagen über Gesetzesverstöße für die blaue Argumentation: Die Briefwahl sei genrell "missbrauchs- und manipulationsanfällig". Und weiter: "Unser Anfechtungsgegner ist nicht Alexander Van der Bellen, er ist genauso ein Opfer wie Norbert Hofer, unser Anfechtungsgegner heißt Bundeswahlbehörde". Dort hätten die Fehler auffallen müssen.

Der Chef-Wahlleiter im Innenministerium, Robert Stein, musste sich am längsten den Fragen der Höchstrichter stellen. Er verteidigt seine Behörde: "Viele Bezirkswahlbehörden haben gezeigt, dass das Gesetz vollziehbar ist."

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Zweieinhalb Stunden lang mussten am Mittwoch die Parteien den 14 Höchstrichtern Rede und Antwort stehen. Am Ende vertagte Präsident Gerhart Holzinger die mündliche Verhandlung auf unbestimmte Zeit, betonte aber, der Verfassungsgerichtshof werde „alles in seiner Macht Stehende tun, eine Entscheidung in der vierwöchigen Frist zu treffen“, und die endet am 6. Juli.

Zwei Tage später sollte das neue Staatsoberhaupt angelobt werden – aus derzeitiger Sicht ist das Wahlsieger Alexander Van der Bellen.
Dieser Termin wackelt aber nicht nur, weil offen ist, wie lange sich die 14 Höchstrichter beraten. Was bisher kaum thematisiert wurde: Die FPÖ hat in ihrer Anfechtungsschrift ja nicht nur Mängel bei der Auszählung angeprangert, sondern auch behauptet, dass das Briefwahlgesetz verfassungswidrig sei. Wenn das Höchstgericht das auch so sieht, müsste das laufende Verfahren unterbrochen und das Gesetz geprüft werden.

Wenn es sich tatsächlich als verfassungswidrig herausstellt, wird die Wahl auf jeden Fall aufgehoben. Eine Wiederholung ist dann erst erlaubt, wenn das Gesetz repariert ist. Und das kann wiederum dauern.

Für die präsidentenlose Zeit müssen die drei Nationalratspräsidenten als Kollegium einspringen.

Recht wahrscheinlich ist das nach aktueller Judikatur aber nicht: Bereits nach der EU-Wahl 2014 musste der VfGH prüfen und stellte fest: Die Briefwahl ist in dieser Form in Ordnung.

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