Türken-Privileg seit 1970: Vertrag verbietet Integrationsmaßnahmen

Türken-Privileg seit 1970: Vertrag verbietet Integrationsmaßnahmen
EU-Türkei-Abkommen. Ein Vertrag verbietet Integrationsmaßnahmen für türkische Staatsbürger in Österreich.

Sozialhilfe wie die Mindestsicherung soll künftig nur mehr bekommen, wer sich auch integrationswillig zeigt und die deutsche Sprache erlernt – das hat die türkis-blaue Regierung wiederholt klargemacht. Geplant ist, dass vollen Anspruch auf Mindestsicherung nur bekommt, wer abgeschlossene Wertekurse, Deutschkenntnisse und eine unterschriebene Integrationsvereinbarung vorweisen kann. Bei Verweigerung, so der Plan, werden die Leistungen gekürzt.

Was die Regierung nicht dazu sagt: Für die rund 120.000 in Österreich lebenden türkischen Staatsbürger wird das wohl nicht gelten. Kaum zu glauben: Ein altes Abkommen der EU mit der Türkei verhindert nämlich praktisch alle Integrationsmaßnahmen der türkischen Bürger in Österreich – und in allen anderen europäischen Staaten. 1963 schlossen die damaligen „Europäischen Gemeinschaften“, die Vorläuferorganisation der EU, ein „Assoziierungsabkommen“ mit dem türkischen Staat‚ das 1970 um eine „Stillhalteklausel“ erweitert wurde.

Diese Klausel besagt, dass fast alle in Europa lebenden türkischen Staatsbürger „nicht schlechter behandelt werden dürfen als zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens 1963“, erklärt Europarechts-Experte Walter Obwexer.

Keine Verschlechterung

Anders gesagt: Die Mehrheit der hier lebenden türkischen Bürger können zu Integrationsmaßnahmen wie Deutsch- oder Wertekursen nicht verpflichtet werden.

Es handelt sich auch nicht um totes Recht, bestätigt Obwexer, sondern ist immer wieder Gegenstand von EuGH-Urteilen.

Maria Berger, österreichische Richterin am Europäischen Gerichtshof, nannte diese Klausel eine „Jugendsünde der EU“. Obwexer kann ihr beipflichten: „Damals herrschte eine Euphorie in Europa auch, was ein Heranführen der Türkei an Europa betraf. Das Abkommen war praktisch Vorschusslorbeeren, aus heutiger Sicht recht unvorsichtig, weil man offenbar nicht daran gedacht hat, dass es in Zukunft Situationen geben könnte, wo diese Klausel zum Problem wird“, erklärt der renommierte Europarechtler.

Dazu komme, dass der EuGH nach Klagen türkischer Staatsbürger immer wieder diese Klausel sehr zum Vorteil der Türken ausgelegt hat. „Erst vor zwei Jahren gab es überraschend erstmals ein Urteil, in dem der Gerichtshof etwas von seiner Linie abgewichen ist. Eine Einschränkung ist nur zur Sicherung der öffentlichen Ordnung erlaubt – und wenn die Maßnahme verhältnismäßig ist.“

Verpflichtende Deutschkurse, erklärt der Experte etwa, könne man zwar mit der Integration von Türken begründen, doch seien verpflichtende Kurse wahrscheinlich eine zu harte Maßnahme und daher nicht verhältnismäßig. „Man wird vielleicht zuerst versuchen müssen, die Menschen freiwillig zum Deutschlernen zu bringen.“ Auch beim geplanten Kopftuchverbot für Mädchen hat Obwexer Bedenken, ob das im Hinblick auf das Argument des Schutzes der Kinder verhältnismäßig sei.

Und bei der Mindestsicherung? „Klar ist, dass das eine Maßnahme wäre, die es 1970 nicht gab, also eine Verschlechterung. Die Republik muss also sehr genau begründen, warum es jetzt wichtige Gründe gibt, die Türken dazu zu zwingen. Gelingt das nicht, müssen die Türken die Integrationsvereinbarung nicht erfüllen und bekommen dennoch die Mindestsicherung ausbezahlt.“

Auch Arbeitsrechtsexperte Wolfgang Mazal, der ein enger Berater von Kanzler Sebastian Kurz ist, gibt zu, dass „ein wasserdichtes Gesetz zur Mindestsicherung“ wegen des EU-Türkeiabkommens nicht einfach sein werde. „Ja, es könnte sein, dass das zum Schluss für die Türken nicht gilt.“ Es werde sehr darauf ankommen, was konkret verlangt wird. Er sei da aber optimistisch, dass das gelingt.

Gefährliche Kündigung

Übrigens: Selbst wenn alle EU-Staaten samt EU-Kommission bereit wären, diese Regelung zu ändern, wäre es doch nicht möglich. „Das geht nur, wenn auch die türkische Regierung einverstanden ist, was ich derzeit ausschließe“, sagt Obwexer. Möglich wäre nur eine einseitige Kündigung aller bestehenden Abkommen mit der Türkei. „Dann würden die Türken wohl auch das Flüchtlingsabkommen mit der EU aufkündigen“, warnt der Experte.

EU-Türkei-Abkommen

Assoziierungsabkommen 1963 wurden die Beziehungen der damaligen EG mit der Türkei erstmals vertraglich fixiert, und 1970 und 1980 erweitert.

Die Stillhalteklausel Sie besagt, dass jene türkischen Staatsbürger, die legal in Europa sind und sich hier niederlassen dürfen, durch neue Regelungen oder Gesetze nicht schlechter gestellt werden dürfen als zum Vertragzeitpunkt 1963.

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