Tschetschenische Parallelwelten

Jugendbanden wie die „Goldenbergs“ tragen zum schlechten Ruf bei
Maynat Kurbanova über eine verlorene Generation und ein Image, das zur Identitätskrise führt.

Maynat Kurbanova war Kriegsberichterstatterin. Sie hat studiert, ist viel gereist. Heute ist sie "Tschetschenin von Beruf". Das sagt sie selbst. Denn immer dann, wenn ihre Landsleute negative Schlagzeilen machen, nehmen Medien mit ihr Kontakt auf. Dann muss sie erklären, wie "die Tschetschenen" ticken.

Tschetschenische Parallelwelten
Interview mit tschetschenischer Journalistin Maynat Kurbanova für Serie Plan K zur Integration von Tschetschenen in Österreich. Wien, 11.09.2017
Kurbanova trägt einen knielangen Rock, hat die Haare offen. "Frauen, die sich so kleiden wie ich, sind unsichtbar. Sichtbar sind diejenigen, die einen schwarzen Niqab tragen", meint sie.

Schutzschild

Tschetschenische Frauen, die in Österreich aufgewachsen sind, kleiden sich oft strenger als die in Tschetschenien. "Das haben sie hier für sich entdeckt, um sich zu schützen, sich abzukapseln." Kontakt zur Außenwelt vermeiden sie. "Sie leben unter ihren Landsleuten in ihrem Bezirk. Die Wiener Innenstadt haben viele noch nie gesehen." Meist leben sie am Existenzminimum. Der Islam sei ein wichtiger Teil der Identität. "Ahnung davon haben aber nur wenige. Es ist eben gerade sehr in, Muslim zu sein."

Die Polizei hat "auffallend oft mit Tschetschenen zu tun", sagt Andreas Holzer, Leiter der Abteilung für organisierte Kriminalität im Bundeskriminalamt. Rund 30.000 Tschetschenen leben in Österreich. Im Vorjahr wurden der Volksgruppe 3200 Straftaten angelastet.

Das umfasst Mafia-Strukturen, Schutzgeld-Erpressungen, Jugendbanden – wie die "Goldenbergs". Natürlich gebe es auch Kriminelle unter den Tschetschenen, sagt Kurbanova. "Aber die Mehrheit lebt ein ganz normales Leben", meint sie.

Kurbanova kümmert sich um jene, die auffallen. Sie fährt regelmäßig in die Justizanstalt Gerasdorf, um straffällig gewordene junge Tschetschenen zu betreuen. Und sie engagiert sich im Verein "Netzwerk tschetschenischer Mütter" – hier sucht man Wege gegen die Radikalisierung der jungen Männer. "Mütter haben die meiste Macht in der Familie. Aber sie brauchen ein Werkzeug, um mit den jungen Männern zurecht zu kommen."

Es sind die Folgen der Kriege, gegen die sie kämpfen. "Wenn du 1980 geboren wurdest, bist du im Krieg groß geworden. Die Menschen hatten wenig Chancen, eine Schule zu besuchen oder abzuschließen. Diese Generation hat Lücken, sie findet sich nicht zurecht." Der Krieg habe eine ganze Gesellschaft zerstört. "Wenn du immer nur hörst, dass du ein Terrorist bist, wirst du einer." Das Volk sei der Sündenbock für die ganze Welt.

"Hart und böse"

Speziell junge Burschen hätten ein Problem mit ihrer Identität. "Was erwartet man von einem jungen Tschetschenen? Dass er hart und böse ist. Dass er zuschlägt." Sie beobachte, dass manche Burschen unbewusst alles tun würden, um diesem Bild zu entsprechen. "Sie fühlen sich ausgegrenzt." Bei der Wohnungs- und Jobsuche hätten sie es schwer.

Die meisten der Burschen, die sie in der Justizanstalt betreut, haben keine Väter. "Die sind entweder gefallen oder sie haben sich von der Familie getrennt. Solche Burschen sind leicht zu manipulieren. Die braucht man nur in den Parks anzusprechen."

Lösung sieht sie nur eine: "Man muss diesen Menschen entgegen kommen. Bei vielen wird das funktionieren. Die Sehnsucht, sich zu öffnen, ist groß."

Punkto Identifikation mit Österreich unterscheide sich die Einstellung der türkischstämmigen Bevölkerung von anderen Zuwanderungsgruppen, berichtet der Integrationsfonds. So sollen sich in einer Erhebung etwas mehr als die Hälfte der befragten Austro-Türken eher der Türkei als Österreich zugehörig gefühlt haben – obwohl sie oft hier geboren und aufgewachsen sind. Sind türkischstämmige Menschen also Integrationsmuffel?

So einfach lässt sich die Frage nicht beantworten, meint Soziologe Kenan Güngör. Denn: die Türken gebe es ebenso wenig, wie die Österreicher. "Wenn man (als Mehrheitsgesellschaft; Anm.) Menschen mit Migrationshintergrund nicht anbietet, dass sie sowohl Österreicher als auch Türken sein können, zwingt man sie in eine Form, in die sie nicht reinpassen."

Das Hauptproblem sieht Güngör vor allem bei der Bildung. Laut Integrationsfonds hatten 2015 fast zwei Drittel aller Personen mit türkischem Migrationshintergrund einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsstand. Probleme bei der Integration haben nun vor allem Jugendliche, die den Bildungsaufstieg nicht schaffen, meint Güngör. Durch die Perspektivenlosigkeit wären sie anfälliger für radikales Gedankengut und würden dadurch eher in die Kleinkriminalität abrutschen.

Auf die Frage was Austro-Türken für die bessere Integration tun könnten, antwortet er:"Sie beklagen sich über die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Muslimen, die es auch gibt, aber müssten selbstkritisch hinterfragen, warum es so eine große Ablehnung gibt. Es hilft nicht, in der Opferrolle zu verharren."

Fremdsprachen

Beim Wiener Stadtschulrat bemerkt man punkto Bildung eine Trendwende: Obwohl türkischstämmige Kinder bei Eintritt in die Volksschule zum Teil noch nicht ausreichend Deutsch können, um dem Unterricht zu folgen und deshalb zusätzliche Sprachförderung benötigen (wie viele es genau sind, wird nicht erhoben), würden "gerade türkische Familien immer bildungsaffiner", meint Integrationsexpertin Ulrike Doppler-Ebner.

"Anders als noch vor zehn bis 15 Jahren wollen viele Eltern für ihre Kinder eine bessere Bildung als ihre eigene. So suchen sie gezielt Schulen mit Fremdsprachenangebot aus, weil sie wollen, dass ihre Kinder, vor allem Mädchen, später auf eine AHS kommen."

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