Thomas Brezina: "Die Kinder bleiben auf der Strecke"

Thomas Brezina: "Die Kinder bleiben auf der Strecke"
Österreichs erfolgreichster Kinderbuchautor über das PISA-Debakel beim Lesen und sein Gegenrezept.

KURIER: Herr Brezina, laut der aktuellen PISA-Studie ist jeder dritte Schüler ein Risikoschüler. Im sinnerfassenden Lesen liegen die österreichischen Schüler unter dem OECD-Durchschnitt. Läuten da bei Ihnen alle Alarmglocken?

Thomas Brezina: Es ist erschreckend. Vor allem der Verlauf der letzten 15 Jahre, wo es stetig bergab, statt bergauf geht. Ich schreibe seit 27 Jahren Kinderbücher. In diesen fast drei Jahrzehnten ist es auch mir nicht entgangen, dass die Lesefähigkeit eindeutig gesunken ist. Da gibt es nichts zum Schönreden.

Wie spüren Sie das als Autor?

Mein Herz gehörte immer den mittleren Lesern. Ich wollte jenen Kindern, die nur fallweise lesen, Lust auf mehr Bücher machen. Deswegen habe ich schon vor 27 Jahren auf kurze Kapitel, die möglichst spannend enden, und eine große Schrift gesetzt – was ich oft gegen den Widerstand des Verlages durchsetzen musste. Das reicht heute nicht mehr, um Kinder an ein Buch zu fesseln. Daher müssen wir bei den Büchern noch stärker auf Illustrationen setzen, benötigen eine noch größere Schrift und müssen die Texte noch stärker verkürzen. Die Inhalte sollten in einer knappen Art und Weise, wie man eigentlich jüngeren Kindern Geschichten erzählt, dargestellt werden. Auf diesen Erzählstil setze ich im Moment, weil so die Aufmerksamkeit der Kinder gewinnen kann.

Wer ist schuld an dem Dilemma?

Es gibt keine Schuldigen, sondern es gibt Tatsachen. Die Aufmerksamkeitsspanne ist nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Erwachsenen durch Internet und Smartphones zurückgegangen. Wer schaut sich denn heute noch ein Video auf YouTube an, das länger als drei Minuten dauert? Das Vorlesen ist wichtig. Doch wir müssen uns im Klaren sein, dass es eine große Anzahl an Erwachsenen gibt, die selber nicht gut genug lesen können. Zusätzlich sind die Eltern heute im Leben so gefordert, dass zum Vorlesen keine Zeit bleibt. Da existiert ein Defizit, das immer größer wird. Deswegen sage ich: Der Spaß an den Buchstaben und Texten ist wichtig. Das muss kein Buch sein, das kann eine Werbung oder auch ein Straßenschild sein.

Kann man das Problem so einfach mit den veränderten Lebensumständen erklären? Prinzipiell sollte die Eltern doch das Ziel haben, ihre Kinder so gut wie möglich auszubilden. Haben viele Eltern dieses Ziel aus den Augen verloren?

Eine Frage stelle ich mir immer wieder: Welchen Respekt haben wir vor den Kindern? Wie hoch ist der Wert der Kinder in unserer Gesellschaft? Im Norden und im Süden Europas ist die Wertigkeit von Kindern höher als bei uns. Sehen wir Kinder als kleine auszubildende Menschen, die zu trainieren sind. Oder sehen wir sie als Menschen mit ihren eigenen Fähigkeiten, die wir so gut wie möglich fördern wollen, damit sie sich voll entfalten können. Wenn ich mich so umschaue, vermisse ich die Achtung gegenüber den Kindern als Individuum. Damit meine ich aber nicht, dass man Kinder überhöhen und auf ein Podest stellen soll.

Sie sind auch TV-Produzent. Wie reagieren Sie auf die verkürzte Konzentrationsfähigkeit?

Auch im TV müssen die Beiträge kürzer und die Botschaften prägnanter werden. Wir sind von 25 auf 15 Minuten zurückgegangen. Nach 15 Minuten sagen die Kinder bei den TV-Tests: Schade, dass die Sendung zu Ende ist. Können wir noch eine Folge sehen? Dauert ein Beitrag 25 Minuten, werden sie unruhig und verlieren schnell die Lust.

Sollten auch die Unterrichtsstunden kürzer werden?

Das hängt sicher vom Unterrichtsfach ab,ob es sich um Unterricht oder Üben handelt. Hier ist es wichtig, dass die Individualität im Mittelpunkt steht. Die starren Unterrichtszeiten sollten auf jeden Fall aufgelöst werden.

Welche Konsequenzen haben die PISA-Ergebnisse für ein Kulturland wie Österreich?

Für die Gesellschaft ist dieses Ergebnis eine Katastrophe. Denn Lesen ist die Grundvoraussetzung, um Informationen aufzunehmen. Was mich viel mehr beschäftigt, ist die Frage: Was muss geschehen, damit das Handlungsmuster der Politik durchbrochen wird? Zuerst kommt immer der Aufschrei: "Um Himmels Willen, wir sind so schlecht!" Dann wird schnell etwas zusammengepfuscht, doch die Situation bessert sich nicht.

Was muss sich bessern?

Was ich seit vielen Jahren beobachte ist Folgendes: Wenn Sie zehn Sechsjährige vor sich haben, dann sind manche auf dem Niveau von Vierjährigen und manche auf dem Stand von Achtjährigen. Mit diesem Niveauunterschied muss der Lehrer nun arbeiten. Geht man nur mit einer Methode auf diese Kinder im Unterricht zu, werden die einen unter- und die anderen überfordert sein. Man muss den Lehrern Mut machen, dass sie verschiedene Unterrichtsmethoden ausprobieren. Wer bitte sagt, dass die Buchstaben in sechs Monaten gelernt werden müssen? Geben wir den Kindern Zeit. Die Welt geht deswegen nicht unter. Besser ist es, die Buchstaben sitzen nach einem Jahr wirklich gut, anstatt nach sechs Monaten, aber dafür nur mittelmäßig.

Plädieren Sie für einen verpflichtenden Kindergartenbesuch und für Gesamtschule?

In Österreich sind die Begriffe wie Ganztags- oder Gesamtschule leider negativ punziert. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass man nur in der Schule und im Kindergarten etwas verändern kann. Denn auf die Eltern können wir keinen Einfluss nehmen. Man kann es mit Bewusstseinsbildung versuchen, aber letztlich bleibt die Entscheidung der Eltern individuell. Daher ist unsere einzige Chance die Schule.

Die Politik sollte endlich ihre ideologischen Diskussionen beenden...

Tatsache ist: Die Zeit läuft uns davon. Es muss endlich gehandelt werden. Zuerst müssen wir die Ziele definieren. Unser Ziel kann es nicht nur sein, in der PISA-Studie besser zu liegen. Vielmehr sollten wir die Lesefreude fördern, damit mehr als zwei Drittel der Bevölkerung wieder sinnerfassend lesen können. Umso besser ich lesen kann, umso besser ist mein Zugang zum Leben. Daher muss man analysieren, wie man an diese Ziele kommt. Bei uns wird zwar seitenweise über diverse Schulmodelle geschrieben und diskutiert. Es wird über die Lehrer, die Direktoren, die Gewerkschaften geschrieben, aber nie über den Schüler. Wir haben nie im Fokus, was wir für die Kinder wollen, wie sich Schule anfühlen soll. Die Diskussion wird von der Ideologie dominiert. Jeder versucht seine Klientel zu schützen, und die Kinder bleiben auf der Strecke.

Thomas Brezina: "Die Kinder bleiben auf der Strecke"
Interview mit dem österreichischen Autor Thomas Brezina am 09.12.2016 in Wien.
Sie leben in London und Wien. Auch in London gab es zuletzt schlechte PISA-Werte. Geht man in Großbritannien besser mit dem Problem um?

Ich lese in London mehr positive Artikel über Lösungen als in Österreich. An einer Londoner Schule gab es das Problem, dass die Kinder müde in die Schule kamen und unkonzentriert waren. Statt lange zu jammern, hat man nach der Ursache gesucht. Man entdeckte, dass viele Kinder ohne Frühstück zur Schule kommen. Statt unendliche viele Elternabende abzuhalten, hat die Schule selbst Initiative gezeigt. Jetzt beginnt der Unterricht mit einem gemeinsamen Frühstück und die Leistungen sind gestiegen. Ideologische Diskussionen über Ganztagsschule oder Gesamtschule gibt es nicht. Sie existieren einfach.

Kann die Gesamtschule der Schlüssel zum Erfolg sein?

Die Entscheidung über den Lebensweg eines Kindes darf nicht mit zehn Jahren festgelegt werden. Kinder aus sozial schwachen Milieus müssen eine Chancengleichheit bekommen.

Wie kann man Kinder motivieren, statt dem Smartphone ein Buch in die Hand zu nehmen?

Paracelsus hat etwas Großartiges gesagt: Alles ist Gift. Auf die Dosis kommt es an. Limitieren ist okay, aber ich bin ein Gegner von Verboten. Zuerst muss die Lesefertigkeit im Mittelpunkt stehen. Wie kann man mit einem Kind Lesen trainieren? Es muss nicht ein Buch sein. Es gibt elektronische Leseprogramme, die wirklich gut sind. Durch Lesefertigkeit kommt Lesefreude. Aber auch hier sollte die Freude am Text wichtig sein. Das kann ein Text im Internet wie etwa Wikipedia sein. Wir müssen uns von dem Gedanken lösen, dass die Eltern bestimmen, was das Kind zu lesen hat.

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