Tagebuch der Regierungsgespräche: Warum die ÖVP bis zuletzt an Neuwahlen glaubte
Es war ein Kraftakt, der an die Substanz ging: Der 120 Stunden-Nervenkrieg um das neue Regierungsprogramm hat seine Spuren hinterlassen. Kanzler Christian Kern kurierte danach eine Grippe aus. Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil laborierte ebenfalls an einem grippalen Infekt. Die beiden Regierungskoordinatoren, ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer und SPÖ-Kanzleramtsminister Thomas Drozda, holen seit Mittwoch das Schlafdefizit mittels Kurzurlaub auf.
Auch wenn nun auf beiden Seiten Erleichterung herrscht, dass nun ein "rot-weiß-rotes" Programm für Österreich zustande gebracht wurde, liest sich der Ablauf der Verhandlungen wie ein Krimi, der einige überraschende Wendungen nahm. In einem Punkt herrscht auf beiden Seiten, sowohl bei der SPÖ als auch der ÖVP, Übereinstimmung: Christian Kern hatte Neuwahlen im Sinn.
Vielleicht wollte er sie nicht in der letzten Jännerwoche ausrufen, aber sicherlich im Laufe der kommenden Wochen. "Es gab keinen Grund, dass Kern ein Ultimatum stellte, denn Mahrer und Drozda arbeiteten bereits an der Überarbeitung des Regierungsprogrammes. Dass es keine Inhalte gab, wie der Kanzler behauptet hat, ist schlichtweg gelogen. Es war alles so abgestimmt, dass Kern nach seiner Israelreise über die Vereinbarungen des Updates informiert wird. Deswegen wurde der Ministerrat auf Mittwoch verlegt", schildert ein ÖVP-Regierungsmitglied. Doch diesen Plan durchkreuzte offenbar ÖVP-Familienministerin Sophie Karmasin, indem sie dem Kanzler unterstellte, dass er "bereits im Vorwahlkampfmodus ist und Neuwahlen in der Luft liegen".
Was als spontane Reaktion folgte, ist bekannt: das Ultimatum.
Aber warum manövrierte sich der Kanzler, der nach außen hin sehr kontrolliert und diszipliniert wirkt, in diese Situation?
"Der Schein trügt. Er wirkt zwar sehr kontrolliert, aber wenn Kern etwas über die Leber läuft, setzt er oft ungeplante Schritte. Da prescht er einfach vor. Das hat er auch in den ÖBB öfters gemacht. Erst während des Prozesses überlegt er sich, wie er die Geschichte für sich zurechtbiegen kann. Er überprüft dann, wie er ich die Geschichte am besten verkaufen kann", erzählt ein ehemaliger Kern-Vertrauter. Und meint weiter: "Ein Kanzler dürfte nicht so emotional handeln."
Leichtes Spiel für die ÖVP
Ein weiteres Indiz, dass die SPÖ mit dem Verhandlungsmarathon selbst überrascht wurde, ist der Verhandlungsverlauf. Bis Freitag wurden die Inhalte des neuen Regierungsprogramms diskutiert. Samstag und Sonntag wurde auf Wunsch von ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling und Staatssekretär Harald Mahrer jeder Punkt auf seine finanzielle Umsetzbarkeit abgeklopft. "Wir sind beide ehemalige Unternehmer. Für uns war daher dieser Punkt extrem wichtig", so Mahrer nach dem Ministerrat am Montag. Zum Schluss wurde dann noch jeder Arbeitspunkt mit einer Frist versehen – eine Forderung, die von Drozda und Mahrer kam.
Die ÖVP erlebte in den ersten beiden Verhandlungstagen gleich mehrere Überrasschungsmomente. Es gab kaum roten Widerstand. Selbst das Integrationspaket von ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz, das seit August auf Eis lag, wurde innerhalb von 50 Minuten vom Kanzler inklusive dem heiklen Burka-Verbot abgesegnet. Bei Sicherheitspaket gab es zwar einen Knatsch, aber der lief erstaunlicherweise nicht zwischen dem Kanzler und Wolfgang Sobotka ab, sondern zwischen Reinhold Mitterlehner und seinem Innenminister, weil der ÖVP-Vizekanzler nicht mehr auf die Halbierung der Obergrenze beharrte. Videoüberwachung im Öffentlichen Raum? Kein Problem. Selbst der Fußfessel für Gefährder nickten die Roten ab.
"Wir hatten das Gefühl, dass es dem Kanzler die ganze Zeit egal ist, was bei den Verhandlungen rauskommt, denn er hatte zu diesem Zeitpunkt noch immer Neuwahl-Gelüste", so ein ÖVP-Regierungsmitglied.
Die Stimmung dreht
Die Stimmung dreht sich am Freitag. Vor allem die Gewerkschaft und auch die Länder scheinen dem Kanzler signalisiert zu haben, dass sie im Moment keine Neuwahl haben möchten. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte schon am Donnerstag in einem fast 45-Minuten-Gespräch der Regirungsspitze mitgeteilt, dass er nichts von einem Koalitionsende hält. Der Kanzler wusste nun: Jetzt muss er liefern, damit er aus der Situation unbeschadet aussteigt.
Kern sagte die Israelreise ab, forderte dass alle Minister das neue Regierungsprogramm unterschreiben müssen. Trotzdem wurden die Verhandlungen am Freitagabend sehr früh beendet, weil Kern den Geburtstag seiner Frau Evelyn gemeinsam feiern wollte.
"Lass Kern doch schmoren"
"Am Samstag merkte man, dass Kern geswitcht hatte. Ab da wurde dann auch anders verhandelt." Doch einer hatte ab jetzt Oberwasser: Das war ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner. Auf seinen guten Willen ist der Kanzler nun angewiesen. Es gab einige Schwarze, die Mitterlehner in dieser Situation den Rat gaben: "Der braucht dich jetzt. Lass ihn doch schmoren." Aber der ÖVP-Vizekanzler hielt von der Taktik nichts. Er zeigte sich weiterhin kooperativ, dass der neue Regierungspakt schnell abgeschlossen werden kann. Obwohl Mitterlehner durchaus Gründe gehabt hätte, Kern Hürden in den Weg zu legen. Denn Kerns Forderung, dass alle Minister den Pakt unterschreiben müssen, erfuhr der Vizekanzler quasi im Vorbeigehen, "Wenige Minuten bevor Kern es vor den Journalisten verkündete, hat er erst Mitterlehner mitgeteilt. Der hatte gar keine Chance Widerstand zu leisten." Aber egal, Ende gut alles gut.
Kommentare