Mitterlehner: "Wir haben nichts zu verteilen"

„Reine Klientelpolitik ist einer Regierungspartei nicht mehr möglich“, sagt Vizekanzler Reinhold Mitterlehner.
Vizekanzler will staatlichen Leistungen rückbauen und vom "letzten aufs erste Lebensdrittel" umschichten.

KURIER: Herr Vizekanzler, über die Ursachen für die griechische Tragödie tobt ein Glaubenskrieg. Was ist Ihre Analyse, warum Griechenland unter den Krisenländern zum Sonderfall wurde?

Reinhold Mitterlehner: Ursächlich ist, dass Griechenland den Beitritt zur Eurozone nicht dazu verwendet hat, um konkurrenzfähig zu werden. Mit dem günstigen Euro wurden die Löhne erhöht und Importe finanziert, anstatt die griechische Wirtschaft produktiv zu machen. Ein bezeichnendes Beispiel ist, dass Griechenland selbst im Lebensmittelbereich einen Importüberhang hat, was für ein fruchtbares, mediterranes Land skurril anmutet. Man hat verabsäumt, Strukturanpassungen in Richtung eines modernen europäischen Landes vorzunehmen.

Die Versäumnisse haben nicht nur viel gekostet, sondern einen Teil der griechischen Bevölkerung massiv getroffen. Hätte Europa früher Druck für Strukturreformen machen müssen?

Der Fehler ist nicht, dass Helmut Kohl und die anderen das nicht gesehen hätten. Sie haben einen Kohäsionsfonds aufgesetzt, der es den südlichen Ländern ermöglichen sollte, ihre Wettbewerbsfähigkeit anzupassen. Da ist aber viel in falsche Kanäle und Projekte gelaufen. Das war ein Grundfehler. Und der zweite Fehler war, dass man die Spielregeln der Eurozone, die Kontrolle über die Budgetdisziplin, erst entwickelt hat, als die ersten Probleme auftraten.

Müsste man nicht auch einmal etwas für jene Gruppen in der europäischen Bevölkerung machen, die die Verlierer solcher Reformprozesse sind, damit Europa nicht immer nur negativ mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt?

Nein, die Sozialunion ist eine Notmaßnahme, keine Gewährleistung. Sozialhilfe wäre eine Folge, wenn ein Staat die Spielregeln der Währungsunion nicht einhält. Dann bliebe der Union nichts anderes übrig, als jenen Menschen, für die es ums Überleben geht, mit einem Notprogramm zu helfen.

Was ist mit Gruppen, die innerhalb der Eurozone Verlierer solcher Anpassungsprozesse sind? Wie sollen Jugendliche an ein Europa glauben, von dem sie nichts als Arbeitslosigkeit haben?

Genau aus diesem Grund fördern wir die duale Berufsausbildung. Auch Griechenland hat sich dafür interessiert. Wir haben vor Ort informiert über KMU-Finanzierungen, über ein duales Ausbildungssystem usw. Das wurde aber abgebrochen, weil in Athen eine andere Regierung ans Ruder kam. Hier genau liegt das Problem: Man braucht einfach funktionierende staatliche Strukturen.

Ohne uns mit Griechenland zu vergleichen – gibt es eine Lehre, die man aus einem Extremfall wie Griechenland für Österreich ziehen kann?

Die Lehre ist: Länder, die sich Wirtschafts- und Strukturreformen gestellt haben, haben die höchsten Wachstumsraten. Spanien hat heuer 2,8 Prozent, Großbritannien hat 2,5 Prozent. Länder, die ihr System angepasst haben, werden von den Märkten belohnt. Das stellt sich für Österreich als Zukunftsaufgabe. Wir haben strukturelle Mängel und glauben, mit weniger Desselben drüberzukommen. Wir müssen uns genauso umstrukturieren.

Wo genau müssen wir uns umstrukturieren?

Mitterlehner: "Wir haben nichts zu verteilen"
„Reine Klientelpolitik ist einer Regierungspartei nicht mehr möglich“, sagt Vizekanzler Reinhold Mitterlehner.
Es sind im Wesentlichen das Pensions-, das Gesundheits- und das Arbeitsmarktsystem, die effizienter arbeiten müssen. Mit einem Staatsanteil von 52 Prozent geben wir deutlich mehr zur Stabilisierung der Systeme aus als zum Beispiel Deutschland. In Österreich ist das Anspruchsdenken an den Staat überdimensional entwickelt. Bei Krankheit, im Alter, bei einem Unfall – wo der Einzelne, auf sich allein gestellt, überfordert ist – ist die Absicherung richtig und wichtig. Wir haben aber auch Ansprüche auf Wohnungen, auf entsprechendes Einkommen, im Gesundheitsbereich überdimensional, nicht nur auf eine Grundversorgung. Der Staat soll so ziemlich alles übernehmen, das ist die Mentalität. Wenn ich eine bestimmte Mindestsicherung kassiere und dazu eine Wohnungsunterstützung, ist der Anreiz zum Arbeiten kaum mehr da, weil der Unterschied zum Arbeitseinkommen kaum mehr da ist. Unser Problem ist, dass wir nicht mehr Eigenverantwortung und Leistung forcieren. Die überzogene Absicherung ist schon so im Denken mancher Leute drinnen, dass jeder Reformen nur beim anderen versteht, nicht bei sich selbst.

Sie wollen also den Sozialstaat rückbauen – klingt nicht nach Wahlschlager.

Wir sollen nicht den Armen, die es brauchen, etwas wegnehmen. Aber man sieht es auch am Flüchtlingsandrang: Es spricht sich herum, dass Österreich ein sozial toll abgesichertes Land ist. Wir müssen schauen, dass wir unsere Systeme optimieren. Wir müssen den Zugang zur Mindestsicherung verschärfen und eine Kontrolle einführen. Oder ein anderes Beispiel: Wir haben wahnsinnig viel Geld für den letzten Teil des Lebens aufgebaut, für Pension, Gesundheit, Pflege. Für den ersten Lebensabschnitt, wo wir zukunftsfit sein müssen, für Kindergarten, Bildungssystem und Unis, haben wir eher zu wenig Geld. Wir müssen versuchen, diese Kurve zu drehen. Ich gebe zu, das ist alles andere als lustig und populär, aber es führt kein Weg daran vorbei. Erfreulich ist, dass die Anzahl der Leute, die das mittragen können, größer wird, weil sie im Fernsehen mitverfolgen, wohin Reformverweigerung führt.

Nach Griechenland. Apropos – der Rechnungshof zeigt auf, dass ausgerechnet die Lehrer, die nicht alters-arbeitslos werden können, massenhaft in Frühpension gehen. Finden Sie das okay?

Natürlich sollte der Staat ein Vorbild für die Privatwirtschaft sein, weil sonst keine Stimmigkeit da ist. Da muss der Staat eine andere Kultur vorleben.

Die Regierung hat zwei Mal einen angekündigten Arbeitsplatzgipfel verschoben. Warum?

Weil uns die Gipfeldramaturgie nicht hilfreich erscheint: Alles wartet vor der Tür mit Fotoapparat und Kamera, dass wir eine Patentlösung vorlegen, die es nicht gibt. Wir werden jetzt intern das Thema aufarbeiten und erst verkaufen, wenn wir Ergebnisse haben. Wir werden die Sozialpartner einbinden, weil auch dort viel zu wenig weitergeht. Unsere überdimensionierte Interessensvertretungs-Landschaft verbreitet nur Thesen und Forderungen, aber das Zusammenspiel, damit Lösungen herauskommen, hat Potenzial nach oben. Die Klienteldarstellung hat nur Sinn, wenn es etwas zu verteilen gibt. Aber wir haben nichts zu verteilen, sondern müssen in manchen Bereichen einschränken.

Wieso regiert die Regierung so zaghaft? Im Wort Nationalrat steckt die Silbe "national" und nicht "Länder" oder "Sozialpartner".

Die Steuerreform hat gezeigt, die Regierung ist handlungsfähig. Sie hat die Steuerreform gemacht, weil sie überzeugt war, dass sie für die Konjunktur richtig ist. Aber dann gab es eine Kakofonie über die Gegenfinanzierung in zehnfacher Lautstärke.

Das war der Wirtschaftsbund, wo Sie herkommen.

Das Beispiel zeigt, dass es einer Regierungspartei nicht mehr möglich ist, reine Klientelpolitik zu machen, sonst bewegt sich gar nichts mehr. Bei der Steuerreform hoffe ich, dass wir jetzt den Kaugummi der Gegenfinanzierung endlich abschütteln und die positiven Elemente gut verkaufen. Im Herbst wird die Stimmung besser werden. 2016 wird auch die Wirtschaft mehr wachsen.

Halten Sie die Trendumkehr im Sozialsystem, die Sie anstreben, mit der SPÖ für machbar?

Wir sind eine Zweckgemeinschaft, die keine andere Wahl hat. Wir haben den Konflikt um die Asylpolitik ausgesprochen.

Der Haussegen hängt wieder gerade?

Ja, es bleibt auch nichts anderes übrig. Die Bevölkerung ist von Streit nicht begeistert. Die Erwartungshaltung, dass wir sagen, es reicht, werden wir nicht erfüllen, weil es der Bevölkerung nicht reicht. Es würde nur ein Dritter profitieren, der sich in der Zuschauerrolle befindet.

Ein Dritter profitiert aber auch dann, wenn die Regierung zu wenig Leistung bringt. Wann ist mit den von Ihnen genannten Reformen zu rechnen?

Der 17. November für die Bildungsreform pickt. Der 29. Februar 2016 ist der Termin für eine Pensionsreform. Das Arbeitsmarktprogramm bereiten wir gerade intern vor.

Bei der Steuerreform haben Sie gesagt: Wenn sie scheitert, stellt sich die Frage nach der Existenzberechtigung der Regierung. Sehen Sie den Termin für die Bildungsreform auch so streng?

Ich möchte nicht schon wieder Wenn-Dann-Konditionen aufstellen. Aber ja, die Bildungsreform ist auf jeden Fall ein sehr wichtiges Projekt.

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