Asyl: "Hinschauen wirkt Wunder"

Was tun mit Flüchtlingen? Kardinal: "Wer Not gesehen hat, handelt anders".

KURIER: Warum fällt vielen die gelebte Nächstenliebe, ein Fundament der christlichen Kirche, so schwer?

Kardinal Schönborn:Nächstenliebe ist schon so etwas wie die hohe Schule des Herzens. Das ist nicht immer leicht. Angst, Enttäuschung, Unsicherheit … – es gibt viele Gründe, warum das Herz verschlossen bleibt. Aber es ist auch nicht in Ordnung, Menschen, die sich bedroht fühlen, pauschal Charakterschwäche zu unterstellen. Ich denke, das beste ist, wenn man dem Fremden wirklich von Angesicht zu Angesicht begegnet. Wer mit Flüchtlingen gesprochen hat, ihre Geschichte angehört hat, ihre Not konkret gesehen hat, der redet und handelt meist anders als der, für den die Asylwerber eine anonyme Masse, eine Projektionsfläche sind. Hinschauen wirkt oft Wunder. Es macht uns mit dem Fremden vertraut, und Vertrautheit öffnet das Herz.

Ist die Kirche noch in der Lage, zusätzlichen Wohnraum für Asylwerber bereit zu stellen?

Ja. Viele Pfarren und Klöster haben schon Quartiere zur Verfügung gestellt, und es kommen laufend neue Angebote dazu. Leider bleiben viele Angebote auch ungenutzt, weil die Bürgermeister nicht wollen oder weil aufgrund einer Einzellage die mobile Betreuung nur schwer zu organisieren ist. Und da, wo wirklich einmal ein Pfarrhof leer steht, was sehr selten ist, fehlen meist die nötigen sanitären Einrichtungen. Aber insgesamt wächst unser Platzangebot. Wir wollen lieber mit gutem Beispiel vorangehen, statt dauernd anderen vorzurechnen, was sie leisten sollten.

Warum konnten in der Bosnienkrise deutlich mehr Flüchtlinge ohne derartige heftige Reaktionen aufgenommen wurden?

Das hat sicher viele Gründe. Ich denke, dass wir die Bosnienkrise damals als isoliertes Ereignis, noch dazu in unserer Nachbarschaft, wahrgenommen haben. Da hilft man leichter, weil man denkt, dass das ja bald wieder zu Ende sein wird. Heute spüren die Menschen, dass die Flüchtlingsströme die Spitze einer Völkerwanderung sind. Die Welt hat sich verändert. Wir haben uns an die Stabilität nach dem Zweiten Weltkrieg gewöhnt, an die Hegemonie des Westens, an den Sieg der europäischen Kultur. Das Ende des Kommunismus hat dieses Überlegenheitsgefühl noch verstärkt. Jetzt leben wir auf einmal in einer Welt, in der China dabei ist, die Wirtschaftsnation Nummer eins zu werden, in der es an den Rändern Europas gefährlich brennt, in der der Westen gegen Phänomene wie Boko Haram und IS machtlos zu sein scheint und in der die europäische Kultur nicht einmal mehr die Zuwanderer in ihren Bann zu ziehen vermag. Ich interpretiere die heutige Agitation gegen Zuwanderer und Flüchtlinge – Stichwort Pegida – auch als einen Protest aus Verunsicherung: Gebt uns unsere sichere Welt von damals zurück!

Am Mittwoch ist der zweite Asylgipfel der Bundesregierung ohne nennenswertes Ergebnis beendet worden. Für Caritas-Chef Landau war das eine "humanitäre Niederlage", wie bewerten Sie das?

Kardinal Schönborn: Mit ihren ergebnislosen Gipfeln verzerrt die Politik die Wirklichkeit. Sie erzeugt den Anschein, dass die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge ein unlösbares Problem wäre. Damit wird ein an sich bewältigbares Problem in der Bevölkerung zunehmend als Überforderung des Landes empfunden. Es gäbe aber Hilfsbereitschaft genug, um alle Flüchtlinge anständig aufnehmen zu können.

Manche fürchten soziale Verwerfungen, wenn Österreich noch mehr Flüchtlinge aufnimmt. Wie viele Asylwerber verträgt ein Land? Gibt es eine Obergrenze?

Wo endet die Pflicht, Menschen in Not zu helfen? Natürlich verändert sich das Land durch den Zustrom an Flüchtlingen. Das ist eine echte und große Herausforderung, die soll man nicht kleinreden. Aber wir haben die Flüchtlingsströme am Ende des Zweiten Weltkriegs bewältigt, die Flüchtlingswelle aus Ungarn 1956, nach dem Prager Frühling 1968, im Jugoslawien-Krieg. Und wir können auch den Menschen, die heute bei uns Schutz suchen, helfen. Sollten tatsächlich heuer 70.000 Flüchtlinge nach Österreich kommen, wären das nur acht Flüchtlinge auf 1000 Österreicher. Laut UNHCR beherbergen 68 Prozent aller Gemeinden in Österreich noch keinen einzigen Flüchtling. Wir können noch sehr viel tun, bevor wir an unsere Grenzen kommen.

Im ärmeren Ländern wie dem Libanon, Jordanien oder der Türkei leben viel mehr Flüchtlinge pro Einwohner als bei uns. Sind diese Länder ein Vorbild?

Ich war vor ein paar Monaten im Libanon und habe dort Flüchtlingslager besucht. Es ist unglaublich, was dort geleistet wird. Der Libanon hat ungefähr halb so viel Einwohner wie Österreich – aber bis dato über eine Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Ich wünsche Österreich solche Zustände nicht, aber wir dürfen uns schon ein wenig beschämen lassen durch das, was dort getan wird.

War es ein Fehler, Flüchtlinge in Zelten unterzubringen?

Es hat jedenfalls dazu beigetragen, den Eindruck in der Bevölkerung zu verstärken, dass kein regulärer Platz für Flüchtlinge mehr vorhanden ist. Was definitiv nicht der Fall ist. Wie gesagt sind in mehr als zwei Drittel der Gemeinden gar keine Flüchtlinge untergebracht. Das macht die Notwendigkeit von Zeltlagern sehr fragwürdig.

Wie soll Parteien begegnet werden, die versuchen, aus dem Elend der Asylwerber politisches Kapital zu schlagen, indem sie hetzen?

Wer Österreich liebt, spaltet es nicht. Ich würde mir von allen politisch Verantwortlichen in diesem Land eine Abrüstung der Worte wünschen. Politik auf dem Rücken der Schwächsten, auf dem Rücken von Flüchtlingen, ist keine Politik, die ich mich für unser Land wünsche. Und sie entspricht uns auch nicht. Wir sollten weiter unsere Menschenfreundlichkeit kultivieren, die dazu beigetragen hat, Österreich zum Tourismusmagnet zu machen.

Es gibt bei den Menschen zunehmend viele Ängste und Skepsis gegenüber Flüchtlingen, wie soll dem begegnet werden?

Es gibt auch zunehmend gelebte Solidarität und Nächstenliebe. Allein die Arbeit unserer Caritas wird von 40.000 Einheimischen mitgetragen. Morgen eröffnet die Caritas eine Flüchtlingseinrichtung in Horn in Niederösterreich. Und auch hier ist die Bereitschaft der Bevölkerung, zu helfen, groß. In Klosterneuburg hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, um sich für den Verbleib der Flüchtlinge im Ort einzusetzen. Ähnlich ermutigende Beispiele finden sich in Alberschwende in Vorarlberg und an anderen Orten. Ich bin dem KURIER dankbar, dass all diese Orte gegenwärtig vor den Vorhang geholt werden. All diese Beispiele zeigen: Dort, wo das Fremde konkret wird, wo die Zahl aus der Statistik ein Gesicht bekommt, dort funktioniert das Zusammenleben.

In den Internetforen und auch in der Politik verroht die Sprache gegenüber Asylwerbern zunehmend. Die Hetze nimmt zu, die Menschen reagieren aggressiver. Was kann die Kirche hier für mehr Verständnis tun?

Das betrifft ja nicht nur Asylwerber. Allgemein scheint der Ton, gerade im Internet, ungeduldiger, unduldsamer und aggressiver zu werden. Als ob es sich bloß um virtuelle Menschen ohne realen Schmerz handeln würde, gegen die man da vom Leder zieht. Wir können als Kirche da aber nur weiterhin tun, was unser Kerngeschäft ist: Menschen einen Halt im Leben geben. Helfen, das Gute in einem selbst zu kultivieren. Tugenden entwickeln helfen. Die Menschenwürde verteidigen.

Sind Ihrer Ansicht nach 19 Euro pro Tag für jeden Asylwerber ausreichend, oder sollte der Tagsatz erhöht werden?

Das kann ich nicht beurteilen. Hilfe ist auch nicht immer gleich teuer. Etwa wenn es um die Betreuung von Kindern und Jugendlichen geht, stoßen Hilfsorganisationen an ihre Grenzen. Wenn der Bund in Deutschland die Mittel für Länder und Gemeinden nun verdoppelt hat, frage ich mich, ob ein ähnlicher Schritt nicht auch in Österreich geboten wäre. Was aber vor allem anderen zählt, ist der gute Wille und die Bereitschaft, sich der Not des Gegenübers nicht zu verschließen. Es ist gut für uns alle, wenn Menschenwürde uns noch etwas wert ist.

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