Kern auf Werbetour: "Hoffentlich bleibt er dort, wo er ist"

Der Kanzler auf Werbetour in Amstetten: „Die Lebensrealität der Menschen ist von der innenpolitischen Blase weit entfernt“
Der SPÖ-Chef will nach der Wahl eine Dreier-Koalition bilden, auch wenn zwei Parteien genügen.

Samstag, kurz vor acht Uhr vor der SPÖ-Zentrale in der Wiener Löwelstraße. Die Terrasse im angrenzenden Cafe Landtmann ist noch leer, doch im wartenden Tourbus der Sozialdemokraten ist die Kaffeemaschine bereits angeworfen. Das Wahlkampfteam besiedelt, je nach Temperament fröhlich oder verschlafen, die vorderen Busreihen. Pünktlich erscheint Kanzler Christian Kern, um sich auf Wahlwerbe-Tour zu begeben. An diesem Samstagvormittag steht Amstetten auf dem Plan.

Seit 20. August ist Kern mit dem Wahlkampfbus unterwegs. 6000 Kilometer hat er bereits zurück gelegt, 45 Gemeinden quer durch Österreich besucht und auf Versammlungen zwischen 200 und 1500 Leuten für Stimmen für die SPÖ geworben.

Sympathiebekundungen des Publikums sind an Dekorationen an den Busscheiben nachzuvollziehen. Ein Enkel des Vorarlberger Ex-SPÖ-Abgeordneten Manfred Lackner hat dem Kanzler eine Zeichnung geschenkt. Fußball-Legende Walter Schachner brachte eine Fotografie aus dem Cordoba-Jahr 1978 vorbei, als der Kanzler-Bus kürzlich in Schachners Heimatort St. Michael Station machte.

Gebt’s ihm was z’essen

Die Slim-Linie des Kanzlers scheint bei vielen Leuten den Reflex auszulösen, ihn aufpäppeln zu wollen. Kern hat bereits 36 Geschenkkörbe bekommen, wohl gefüllt mit Speck, Würsten, Brot, Honig, Marmeladen und allerlei Schleckereien. Schnaps und Wein fehlen auch nicht.

In Amstetten sollte Kern den 37. Geschenkkorb erhalten. "Ja, gebt’s ihm was z’essen", ruft eine ältere Dame zustimmend im Publikum.

Mehrere hundert Menschen drängen sich um die Bühne in der Innenstadt von Amstetten. Viele sind deklarierte Sozialdemokraten, zu erkennen an SPÖ-Jacken oder SPÖ-Abzeichen an den Gewändern. Ein Jazz-Quintett sorgt für Stimmung, die SPÖ verteilt Frühstück mit Obst und Getränken. "Ich hoffe, dass er dort bleibt, wo er jetzt ist. Alles andere wäre eine Katastrophe", sagt ein älterer Mann, als der Kanzler die Bühne erklimmt.

"Lassen Sie sich von den bunten Luftballons nicht täuschen", rät Kern seinen Zuhörern. "Da wird mit viel Geld eine Fassade bunt bemalt, aber in der Politik geht es nicht um bunte Farben, sondern um beinharte Interessen. Es zählt ausschließlich, wer auf wessen Seite steht." An dieser Stelle bekommt ÖVP-Chef Sebastian Kurz sein Fett ab. "Da machen einige Industrielle gerade das Geschäft ihres Lebens. Sie spenden ein paar Millionen im Wahlkampf und bekommen dafür Milliarden an Steuergeschenken zurück." Diese Steuergeschenke würde nicht der ÖVP-Obmann bezahlen, sondern "Sie alle, wie Sie hier stehen", ruft Kern ins Publikum. Die SPÖ hingegen stehe auf der Seite jener 95 Prozent, die nicht privilegiert seien.

Klassische sozialdemokratische Inhalte kommen in der niederösterreichischen Kleinstadt gut an. 80.000 Jobs habe er geschaffen, weil die SPÖ "nicht zugeschaut hat, sondern so viel Geld wie nie zuvor in die Wirtschaft gelenkt hat". Das Ergebnis sei, dass die Arbeitslosigkeit sinke, vor allem bei den Jungen. "Arbeitslosigkeit ist für uns ein Skandal", sagt Kern unter heftigem Applaus. "20.000 Jobs für Über-50-Jährige bedeuten nicht nur 20.000 Mal Einkommen, sondern auch 20.000 Mal Würde und 20.000 Mal eine Perspektive."

Besonders empathisch widmet sich Kern dem Thema Pflegeregress. In Wien habe er eine Frau kennen gelernt, die habe ihm erzählt, ihre kleine Pension, ihre beiden Lebensversicherungen und ihre kleine Wohnung seien ihr für das Pflegeheim genommen worden, sie habe mühselig pro Monat fünf Euro auf die Seite gelegt, um den Enkeln etwas zu Weihnachten schenken zu können. Er habe "die Angst in den Augen der Menschen gesehen, alles zu verlieren, wenn sie ins Pflegeheim müssen".

Einfühlsamer Kanzler

Daher sei es richtig, den Pflegeregress abgeschafft zu haben. Sie habe noch nie einen so einfühlsamen Bundeskanzler gesehen, schwärmt eine Zuhörerin.

Nach der Rede wird Kern um Selfies und Autogramme gebeten. Manche Leute bringen Anliegen vor. Eine Frau möchte, dass sich Kern für ein neues Tiertransportgesetz einsetzt.

Eine ältere Frau deponiert ihre Besorgnis, dass in den neuen Primärversorgungszentren zu wenig Geld für Sozialarbeiter vorgesehen sei. "Es gibt so viele einsame, alte Menschen, um die sich niemand kümmert", sagt die Frau. Diese müssten besucht und beraten werden, damit sie die richtigen Medikamente nehmen und sich, solange sie es noch können, selbst richtig pflegen.

Kern zieht aus den vielen Kontakten im Wahlkampf seine Lehren. Eine lautet: "Was die innenpolitische Blase interessiert, ist weit von dem entfernt, was die Lebensrealität der Menschen ist."

In dieser Reportage-Serie sind bereits erschienen:Grün-Chefin Lunacek ("Ich bin eine Kämpfernatur") am 13. 8.ÖVP-Chef Kurz ("Der Sebastian zieht das durch") am 27. 8. Neos-Chef Strolz ("Goschert und voll von Energie") am 3.9. folgt FPÖ-Chef Strache

KURIER: Herr Bundeskanzler, welche Koalitionsvarianten sehen Sie für die SPÖ nach der Wahl?

Christian Kern:Es sind die Wahlergebnisse, die sich ihre Koalitionen suchen. Das hat die Erfahrung gezeigt. Klar ist, dass wir Sozialdemokraten den Führungsanspruch gestellt und ein Konzept für Österreich vorgelegt haben. Dieses durchzusetzen wird der Maßstab sein, nach dem wir die Koalitionsentscheidung fällen werden.

Abgesehen von den Farbspielen – es wird wohl wieder eine Koalition gebildet werden müssen. Aus Ihrer Erfahrung der letzten vierzehn Monate heraus: Was haben Sie sich vorgenommen, damit die nächste Koalition besser funktioniert?

Ich habe einen Koalitionspakt vorgefunden, der so allgemein formuliert war, dass bei allem und jedem ein Interpretationsspielraum da war. Ein neuer Koalitionspakt muss sich auf wesentliche Projekte und einige Grundsätze konzentrieren. Aber ich sage gleich dazu, auch das hilft nichts, wenn man einen Partner hat, der nicht will. Ich habe den Koalitionspakt neu verhandelt, wir haben uns auf 46 Maßnahmen geeinigt, von denen wir den Großteil umgesetzt haben. Die Koalition ist nicht an Inhalten gescheitert, sondern weil viele in der ÖVP diese Regierung nicht mehr wollten. Es ging um Machtpolitik.

Warum probieren Sie es dann nicht einmal mit der FPÖ?

Die FPÖ tut nur so, als stünde sie auf der Seite der Mehrheit. In Wahrheit beschützt sie zwei bis drei Prozent der Bevölkerung, nämlich die Millionenerben. Außerdem bin ich überzeugt, dass es Schwarz-Blau geben wird, wenn die SPÖ nicht Erste wird. Vielleicht gibt es Schwarz-Blau auch dann, wenn die beiden nur Zweite und Dritte werden.

Nochmals zurück zur Ausgangsfrage, bitte. Wenn Sie eine neue Regierung bilden, müssen Sie wohl ein Signal setzen, dass es diesmal anders wird. Wissen Sie schon, was Sie tun werden?

Die Politik braucht Veränderung. Nach der Wahl zu tun, als ob nichts geschehen wäre, halte ich für falsch. Ich habe oft mit Peter Kaiser diskutiert. Mir gefällt sein Modell in Kärnten. Er hat die ÖVP in die Regierung geholt, obwohl Rot-Grün eine Mehrheit hatte. Ich habe in der Regierung gelernt, dass hinter verschlossenen Polstertüren anders geredet wird als gegenüber Medien. Wenn es beispielsweise drei Koalitionsparteien gibt, ist das transparenter. Ich bin ein Freund der Transparenz. Ich habe es deshalb als sehr positiv erlebt, gemeinsam mit den Grünen die Bildungsreform zu verhandeln.

Wollen Sie lieber Neos oder Grüne dabei haben?

Darum geht es jetzt nicht. Es geht um Transparenz und um gesellschaftliche Breite.

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