Juncker an EU-Bürger: "Jetzt müssen wir liefern"

Jean-Claude Juncker.
Soziale Rechte: Kommissionschef will Gesetze.

In einem ehemaligen Speichergebäude am Hafen von Göteborg, wo üblicherweise Kreuzfahrtschiffe anlegen, setzte Schwedens Premier Stefan Löfven ein Zeichen gegen den Aufstieg europafeindlicher und populistischer Parteien: Eine besser abgestimmte Sozialpolitik soll dabei helfen und noch dazu Ungleichheit und Armut abbauen.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will konkrete Gesetze zur Stärkung von Arbeitnehmerrechten. Die in der Europäischen Union vereinbarte "Säule sozialer Rechte" – das Dokument wurde gestern unterzeichnet – dürfe "nicht einfach eine Aufzählung frommer Wünsche" bleiben, sagte Juncker beim Sozialgipfel der EU-Staats- und Regierungschefs in Göteborg.

Einiges werde schon für die Umsetzung der Erklärung getan, die in 20 Punkten Rechte wie faire Löhne, Arbeitslosengeld, Kündigungsschutz, Gesundheitsversorgung, Pflege und Bildung festschreibt. "Jetzt müssen wir liefern", sagte Juncker. Für Sozialgesetze sind in der Regel die Mitgliedsländer zuständig, doch wenn durch soziale Regelungen der Binnenmarkt berührt wird und es Verzerrungen gibt, gilt Binnenmarkt-Recht, das einklagbar ist.

Konservative Regierungschefs, die gewöhnlich EU-Vorgaben in der Sozialpolitik ablehnen, waren gestern überraschend still. Offizielle Proteste blieben aus, auch Deutschland unterstützt die Säule sozialer Rechte. Angela Merkel fehlte aber in Göteborg. Die Bundeskanzlerin und CDU-Chefin, die die Runde der EU-Granden bisher zwölf Jahre lang bändigte, blieb wegen der Jamaika-Verhandlungen zu Hause.

Überschattet war der Gipfel vom Brexit. Ratspräsident Donald Tusk hatte ein Treffen mit der britischen Premierministerin Theresa May und dem irischen Regierungschef Leo Varadkar, um die offene Grenze zwischen Irland und dem britischen Nordirland zu sichern. Tusk verlangte von May ein Verhandlungsangebot über die Kosten des Austritts. Juncker schließt eine Einigung mit den Briten bei strittigen Austrittsfragen bis Dezember nicht aus. "Aber es ist noch viel Arbeit zu tun."Die Folgen des Brexits will Juncker nach dem Austritt Ende März 2019 mit einer Neugründung der EU abfangen. Bei einem Sondergipfel im Mai 2019 will er den Aufbruch in ein neues Europa im rumänischen Herrmannstadt verkünden.

Kanzler im KURIER-Interview

Christian Kern: „Wir werden gemeinsam ärmer“

KURIER: Herr Bundeskanzler, soziale Angleichung in den EU-Staaten wird als Antwort auf die weit verbreitete EU-Skepsis gesehen. Hat dieser Gipfel diese Antwort gebracht?
Christian Kern: Dass es überhaupt einen Gipfel zur sozialen Frage gibt, ist ein Erfolg. Denn ein wesentliches Problem in Europa besteht darin, dass immer größerer Wert auf den Binnenmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit gelegt wurde und dabei die Menschen zurückgeblieben sind. Das Versprechen, Wohlstand und Sicherheit zu garantieren, ist brüchig geworden. Wenn man jetzt nicht reagiert, werden die Probleme noch viel größer werden. Arbeitnehmer in Ländern mit höheren Standards werden durch niedrigere Standards anderer Länder bedroht. Wir werden nicht gemeinsam reicher, sondern gemeinsamer ärmer. Das kann nicht der Weg sein.

Sind Sie für eine gemeinsame Sozialpolitik der EU?
Es gibt kleine Fortschritte, etwa bei der Entsende-Richtlinie und auch bei der Bekämpfung von Stahldumping durch billige Stahlimporte aus China. Außerdem müssen wir die Fiskalregeln reformieren. Nur auf Budgetdefizit und Inflation zu setzen, ist zu wenig. Arbeitslosigkeit und Investitionen müssen Kriterien werden. Die Ausbildungsgarantie für Jugendliche muss mit Leben gefüllt werden. Meine große Sorge ist der unfaire Steuerwettbewerb. Den Niederlanden, Malta, Irland, Luxemburg, aber auch Madeira, muss gesagt werden, dass ihre Geschäftsmodelle nicht länger akzeptabel sind. Das alles verstehe ich unter einer Politik, die soziale Interessen in den Mittelpunkt stellt. Dazu gehört auch, die Nettoempfänger in der EU zu verpflichten, soziale Standards zu setzen. Damit die Menschen dort ein vernünftiges Leben führen können und nicht abwandern müssen. Auch damit können wir unfairen Wettbewerb verhindern.

Orten Sie bei ÖVP und FPÖ, die jetzt eine Koalition verhandeln, ein Anliegen für soziale Gerechtigkeit?
Nicht im geringsten. Meine große Sorge ist, dass sie einen massiven Sozialabbau vorbereiten. Die beiden Parteien haben auch ein ganz anderes Europa-Bild. Sie sagen, dass es reicht, wenn die EU-Staaten nur in wenigen Bereichen kooperieren. Das schadet Österreich, denn wir leben nicht auf einer Insel. Wenn in unseren Nachbarländern niedrigere Standards gelten, dann wirkt sich das negativ auf Österreich aus.MK

Kommentare