Irmgard Griss: "Politiker sollen für ihre Handlungen haften"

Irmgard Griss und Matthias Strolz.
Gestern wurde bei der Neos- Mitgliederversammlung die pinke Doppelspitze offiziell bestätigt. Im ersten Doppel-Interview erzählen Griss und Strolz, wie sie "zusammengewachsen" sind. Warum Kurz für Griss zu populistisch ist und warum Politiker Schadenersatz zahlen sollen.

KURIER: Herr Strolz, die Neos sind die einzige Partei, die mit einer Doppelspitze bei der Nationalratswahl antritt. Hätten Sie den Sprung über die Vier-Prozent-Hürde alleine nicht mehr geschafft?

Matthias Strolz: Diese Frage habe ich mir so noch nie gestellt. Ich habe das Gefühl, dass wir mit Irmgard Griss an Bord eine All-Star-Gruppe sind. Dazu gehören aber auch Beate Meinl-Reisinger oder Sepp Schellhorn .

Frau Griss, bei der ersten gemeinsamen Pressekonferenz habe Sie sehr viele Werte wie Verantwortung, Selbstbestimmung und Solidarität genannt. Werden Ihre Inhalte auch noch politischer?

Irmgard Griss: Ein Schwerpunkt von mir ist die fehlende Verantwortung von Politikern. Die Bürger haben das Gefühl, die Politiker können tun was sie wollen und müssen keine Verantwortung für ihre Entscheidungen tragen. Sie kaufen dubiose Wertpapiere, es entstehen enorme Verluste. Die Konsequenzen spürt nur der Steuerzahler. Das ärgert die Wähler enorm. Hier möchte ich ein Bewusstsein schaffen.

Wie soll das konkret ausschauen?

Griss: Ich kann mir vorstellen, dass die Kompetenzen des Rechnungshofes ausgeweitet werden. Wenn sich bei der Prüfung herausstellt, dass von einem Politiker möglicherweise rechtswidrig und schuldhaft gehandelt wurde, könnte der Rechnungshof in solchen Fällen einen Antrag bei Gericht einbringen, damit geklärt wird, ob das zutrifft. Stellt das Gericht ein Fehlverhalten fest, muss auch ein zivilrechtlicher Anspruch geltend gemacht werden. Mir schwebt jetzt nicht vor, dass Politiker für alle Handlungen haften. Aber sie sollen dafür haften, dass sie alle notwendigen Informationen beschaffen, angemessen aufbereiten und dass kein Interessenskonflikt besteht. Sie sollen nachweisen müssen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohl des Staates gehandelt haben. Im täglichen Leben und in der Wirtschaft muss man ja auch dafür haften, wenn man jemandem einen Schaden zufügt. Warum sollen Politiker da ausgenommen sein?

Sie haben bei der Antrittspressekonferenz gesagt, Ihre Kandidatur sei kein Ego-Trip. Sie sind mit 70 die älteste Kandidatin. Frank Stronach absolvierte nur zwei Nationalratssitzungen. Wie lange werden Sie im Nationalrat für die Neos sitzen?

Griss: (lacht) Wenn ich geistig und körperlich beweglich bleibe, möchte ich die fünf Jahre durchmachen.

Strolz: Frau Griss ist für mich eine Ermunterung, Sport zu machen. Bei unserer Tour durch Österreich hatte ich das Gefühl, ich muss fit bleiben, dass ich mithalten kann.

Griss: Heute bin ich schon gelaufen, geschwommen, habe mit meinem Mann auf der Terrasse gefrühstückt und bin dann von Graz nach Wien gefahren (Anm: Beim Gespräch ist es gerade 12.00 Uhr mittags).

Sie beide haben mit Sebastian Kurz unabhängig voneinander Gespräche über eine mögliche Allianz geführt. Warum ist das Projekt nicht zustande gekommen?

Griss: Für mich war maßgeblich, wo ich mich mehr einbringen kann. Meine Anliegen und Werte sehe ich bei den Neos überzeugender vertreten. Ich will mich für eine vernünftige und nicht populistische Politik einsetzen. Dieses Kompliment kann man den Neos machen, wenn das heute überhaupt noch ein Kompliment ist, nachdem Populismus als Erfolgsgarantie gesehen wird. Für mich war entscheidend, dass Neos wichtige Themen ansprechen, ohne gleichzeitig Ängste zu schüren, nur um einen parteipolitischen Profit zu haben. Das stößt mich ab und dafür würde ich mich nie hergeben. Der Verzicht auf Populismus war maßgeblich dafür, dass ich mich für Neos entschieden habe.

Strolz: Wir sind immer mit vielen im Gespräch und letztendlich kommt zusammen, was zusammenpasst. Was umgekehrt heißt: Es hat mit Kurz nicht zusammengepasst. Schon im Frühherbst 2016 hatte ich den Eindruck, es gibt zu wenig Gemeinsamkeiten.

Wann stand es für Sie und Sebastian Kurz fest, dass Sie nicht auf der Liste Kurz stehen?

Griss: Anfang des Jahres war das mehr oder weniger klar. Auch wenn wir trotzdem noch weiter im Gespräch geblieben sind.

Es ist kein Geheimnis: Kanzler Christian Kern würde gerne eine rot-grün-pinke Koalition nach der Wahl bilden. Wie kann das überhaupt zusammenpassen. Sind doch die Neos wirtschaftspolitisch eher rechtsliberal als linksliberal?

Strolz: Für uns sind ein paar Pflöcke für eine Partnerschaft wichtig: Es muss was in der Bildung weitergehen. Wenn sich die Abgabenquote nach unten bewegt, wenn man ein faires Pensionssystem erreichen kann, das auch für unsere Kinder hält, wenn Europa ein zentrales, gemeinsames Bekenntnis ist, dann ist Neos für eine Koalition zu gewinnen. Was möglich ist, wird die Wahlarithmetik zeigen. In der nächsten Regierung muss aber mehr frische Kraft als verzopfte Struktur sein.

Das geht besser mit der strukturkonservativen SPÖ als mit der ÖVP?

Strolz: Wir sind gleich weit weg von der SPÖ wie von der ÖVP. Dass wir stärker zu der einen oder anderen Seite hängen, ist eine Mär. Das sehen wir nicht so.

Gehen wir zu Ihrer neuen Allianz. Wie groß war der Druck von Seiten der Neos-Großspender wie etwa Ex-Raiffeisen Bank International-Vorstand Karl Sevelda, dass Irmgard Griss mit Ihnen als Doppelspitze in den Wahlkampf geht?

Strolz: Gar nicht. In dieser Frage bin ich von Anfang an im Fahrersessel gesessen. An dem, was im Vorjahr Frau Griss geleistet hat, kommt man nicht vorbei. Sie hat dem alteingesessenen politischen System mutig und entschlossen die Stirn geboten. Da war der Gedanke da: Was können wir miteinander Österreich bedeuten? Ich finde es total richtig, dass wir uns jene Zeit genommen haben, die wir dafür brauchten.

Griss: Ich verstehe überhaupt nicht, warum ich ständig gedrängt wurde, das schneller bekannt zu geben. Die Wahl ist am 15. Oktober. Eine frühere Bekanntgabe wäre der falsche Zeitpunkt gewesen.

Sie wurden ja nicht gedrängt. Sondern man hatte das Gefühl, dass Sie mal mit dem Rechnungshof, dann mit Sebastian Kurz liebäugeln. So entstand der Eindruck mal ja..., mal nein... und dann doch wieder ganz anders. Diese Zögern hat einige Schrammen bei Ihrem Image hinterlassen.

Griss: Einen Ruf habe ich mir in den mehr als 30 Jahren, die ich in der Justiz tätig war, erworben – nämlich dass ich nicht entscheidungsschwach bin. Ich habe mir immer eine Meinung gebildet und dann habe ich entschieden. Aber ich lasse mich nicht fremdbestimmen. Nur weil manche meinen, dass ich mich zum Zeitpunkt X entscheiden muss, mache ich das noch lange nicht. Da mag vielleicht ein gewisser Trotz dabei sein (Strolz lacht), weil es keinen sachlichen Grund gibt, auf Zuruf reagieren zu müssen. Jetzt bin ich so alt worden, ohne das jemals getan zu haben. Da werde ich nicht mit 70 beginnen. Außerdem: so ein Geheimnis war es ja auch nicht. Im Wahlkampf haben mich viele, wenn auch nicht alle, von den Neos unterstützt. Herr Haselsteiner hat mir keinen Cent gegeben, weil er meinte, dass ich chancenlos bin (lacht). Aber die Neos waren immer wichtig für mich.

Irmgard Griss: "Politiker sollen für ihre Handlungen haften"
Irmgard Griss und Matthias Strolz über die Gründe ihrer Allianz. Wien, 08.07.2017
Herr Strolz, Sie sind ein impulsiver Mensch, der gerne in luftigen Sprachbildern spricht und Bäume umarmt. Frau Griss hingegen gilt als die pragmatische, ruhige Spitzenjuristin. Bei der Pressekonferenz meinten Sie, jetzt haben wir eine gewisse Leichtigkeit in unserer Beziehung. War das nicht immer so?

Strolz: Vertrauen muss man sich erarbeiten. Für uns war es wichtig, dass wir zu Jahresbeginn eine Tour durch Österreich gemacht haben. So haben wir Schritt für Schritt Vertrauen zueinander gewonnen. Das habe ich als sehr unaufgeregtes, schönes Zusammenwachsen empfunden. Jetzt können wir miteinander umgehen. Dass wir zwei unterschiedliche Temperamente, zwei unterschiedliche Altersgruppen sind, wissen wir.

Griss: Aber wir haben einen guten Altersdurchschnitt (lacht).

Strolz: Deswegen ist es oft erstaunlich, wie ähnlich wir gewisse Dinge sehen. Ich könnte oft ohne Absprache den Text von Frau Griss sprechen – und umgekehrt. Ja, sie würde es vielleicht mit einer anderen Tonalität und einem anderen Temperament machen, aber "more of the same" brauchen wir auch nicht.

Griss: Mir ist die Generation auch nicht fremd. Sie sind ja ungefähr so alt wie mein Stiefsohn.

Herr Strolz, Sie sprechen in Ihrem Buch ja sogar Ihre Leser per Du an. Wenn die politische Beziehung so gut klappt, warum sind Sie mit Frau Griss immer noch per Sie?

Griss: Das ist eine Generationenfrage. Ich bin mit wenigen Menschen per Du und das hat einen Grund: Wenn man per Sie ist, kann man manches sagen, was man nicht mehr sagt, wenn man per Du ist. Es schafft eine gewisse Distanz, die wieder eine Offenheit und eine Kritik ermöglicht – was schwieriger ist, wenn man per Du ist.

Strolz: Ich bin im Westen Österreichs auf 1000 Metern aufgewachsen. Und über 1000 Meter ist man per Du. Deswegen bin ich sehr schnell per Du mit Menschen. Aber bei Frau Griss passt das Sie für mich und ist total stimmig.

Frau Griss, Ihr letzter Wahlkampf liegt erst ein Jahr zurück. Welche Fehler werden Sie nicht mehr machen?

Griss: Mit meinen Äußerungen bin ich sicher vorsichtiger und versuche mitzudenken, ob man in meine Worte noch etwas hineininterpretieren kann. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht, denn ich rede mich schnell in einen Strudel.

Was war der größte Fauxpas?

Griss: Vielleicht diese Äußerung im Zusammenhang mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich. Was mir da unterstellt wurde, war aus meiner Sicht vollkommen absurd. Ich habe nicht die geringste Sympathie für den Nationalsozialismus, ganz im Gegenteil. Im ersten Moment habe ich gar nicht realisiert, was da passiert ist. Aber so ist das politische Geschäft. Was ich sagen wollte, war ja nur, dass man autoritären Bewegungen gegenüber wachsam sein muss, weil sie ihr wahres Gesicht nicht von Anfang an zeigen. Aus der heutigen, sicheren Situation über damals zu urteilen, ist ganz leicht. Das kommt mir vermessen vor.

Herr Strolz, waren Sie selbst überrascht, welche Fehler ihr im Wahlkampf verziehen wurden?

Strolz: Ich schätze ihre Geradlinigkeit. Frau Griss sagt, was sie denkt. Das ist ein Bruch mit den Konventionen in der Politik. Deswegen hat sie in ihrem Wahlkampf auch Dinge gemacht, wo wir Profi-Politiker überrascht waren und gedacht haben: Warum geht das bei ihr? Warum darf sie das? Ja, weil Frau Griss sich einfach die Freiheit genommen hat und dann wird es ihr auch zugestanden. Deswegen werden die nächsten Monate im Wahlkampf auch spannend, denn diese Freiheiten wird sich Frau Griss auch wieder nehmen.

Wie kommt man auf einen derart sperrigen Listennamen mit 15 Wörtern: "NEOS - Das Neue Österreich gemeinsam mit Irmgard Griss, Bürgerinnen und Bürger für Freiheit und Verantwortung". Ist Ihnen da nichts Originelleres eingefallen?

Strolz: Das ist ja sehr originell. Das hat noch niemand gemacht (lacht). Wir wollten bewusst einen Teil unserer Botschaft mit auf den Weg nehmen. Der Name wird aber nicht in voller Länge am Plakat stehen.

Weil das Plakat zu klein ist?

Strolz: Weil wir dann ein Plakat zum Wenden machen müssten (lacht).

Die NEOS machen am Sonntag einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Nationalratswahl. Bei ihrer Mitgliederversammlung in Wien steht nicht nur die Fixierung der Bundesliste auf der Tagesordnung, auch über ein sogenanntes Wahlmanifest mit Themen wie Bildung, Unternehmertum und Europa wird abgestimmt. Am frühen Nachmittag stellt sich Parteichef Matthias Strolz der Wahl zum Spitzenkandidaten.

"Unsere Vision einer Freien Chancengesellschaft braucht eine mutige, innovative und unabhängige Politik abseits von Klientelinteressen und Blockaden", lautet einer der Schlüsselsätze im Wahlmanifest, das als Leitantrag eingebracht wird. "Wir treten auf gegen Stillstand, Filz und Steuergeldverschwendung im System. Wir treten ein für Freiheit, Eigenverantwortung, Respekt und die Chance, aus eigener Kraft etwas zu schaffen", heißt es darin weiters.

Eine Kampfansage im Wahlprogramm der NEOS gilt dem "politischen Filz und der Steuergeldverschwendung". Der "Spendierföderalismus" gehöre beendet, Länder in die "budgetäre Verantwortung" geholt. Weiters vorgenommen hat sich die Oppositionspartei die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger sowie eine Senkung der Abgabenquote auf 40 Prozent. Wie üblich wird das Thema Bildung groß geschrieben, etwa durch eine Qualitätsoffensive für die Hochschulen.

Am Vortag war bereits die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss auf den zweiten Platz der Liste gewählt worden. Wer es letztlich sonst noch auf die Bundesliste schafft, entscheiden am zweiten Tag ebenfalls die Mitglieder. Zwei Drittel des Entscheidungsprozederes sind bis dahin schon absolviert. Denn die Stimmen einer öffentlichen Vorwahl, des Vorstands und der Mitgliederversammlung werden zu gleichen Teilen herangezogen.

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