Heinz Fischers Buch "Eine Wortmeldung" im Wortlaut

Buch: "Eine Wortmeldung" von Heinz Fischer, Ecowin-Verlag, 14 Euro.
Heinz Fischer meldet sich zur politischen Lage zu Wort und appelliert: "Gehen Sie wählen!"

Dass wir nicht weniger, sondern eine bessere und funktionsfähigere europäische Zusammenarbeit benötigen, sieht man nicht nur in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, sondern besonders schmerzlich auch am Fehlen einer durchdachten Flüchtlingspolitik.

Die rechtlichen Grundlagen für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik sind Stückwerk, teilweise in sich widersprüchlich und praxisfern. Dazu kommt, dass das Flüchtlingsproblem in seiner Dimension nicht mithilfe von Flüchtlingskonventionen und Asylgesetzen zu lösen ist, sondern vor allem in den Ursprungsländern der Flüchtlingsströme und an den Außengrenzen Europas in Angriff genommen werden muss. Dabei müssen wir allerdings stets beachten, dass Menschen auf der Flucht und Asylsuchende, auch wenn ihre Motive sehr unterschiedlich und die Regelungen unzureichend sind, Menschen in Not sind, denen die europäische Gesellschaft auf der Basis europäischer Werte begegnen muss.

Wofür man sich schämen muss

Jene Menschen, die sich im Vorjahr an Aktionen beteiligt haben und heute beteiligen, um Flüchtlingen zu helfen, sollen sich dafür weder rechtfertigen noch verteidigen und schon gar nicht schämen müssen. Im Gegenteil: Schämen muss man sich für mangelnde Hilfsbereitschaft oder Feindseligkeit gegenüber Menschen in Not, und besonders für den Versuch, aus der Not politisches Kapital zu schlagen! Dringender denn je brauchen wir eine gut organisierte, grundrechtskonforme und menschliche Flüchtlingspolitik.

Daher möchte ich allen, die in den letzten Monaten und Jahren Menschen auf der Flucht geholfen haben, herzlich danken. Und ich möchte besonders auch dem Flüchtlingskoordinator Christian Konrad danken, dessen Arbeit ich sehr genau beobachtet habe. Er ist wahrlich kein weltfremder Idealist, sondern ein mitten im Leben stehender, erfahrener und erfolgreicher Manager, der gezeigt hat, was getan werden muss und wie viel man mit gesundem Menschenverstand tun kann.

Das Schicksal der Flüchtlinge geht uns etwas an

Natürlich stimmt der Satz, dass Österreich nicht allen helfen kann. Aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass wir auch das nicht leisten, was wir leisten können, oder dass uns das Schicksal von Flüchtlingen nichts angeht.

Gleichzeitig möchte ich unterstreichen, dass andere europäische Staaten objektiv kein Recht haben, Österreich Vorhaltungen zu machen. In den letzten 15 Jahren sind in Österreich 380.000 Asylanträge gestellt worden, das entspricht einem Durchschnitt von 25.000 Asylanträgen pro Jahr. Wenn sich die Bundesregierung unter diesen Umständen einen Richtwert von 37.500 Asylanträgen als Ziel gesetzt hat und wenn mit diesem Richtwert bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen verantwortungsbewusst umgegangen wird, dann ist das eine Asylpolitik, die einen überdurchschnittlichen Beitrag zur gesamteuropäischen Asylpolitik leistet.

Wider die Spaltung

In diese Richtung sollte weitergearbeitet werden. Wird der nächste Bundespräsident dabei mithelfen oder Allianzen mit jenen suchen, die sich der Solidarität verweigern? Jedenfalls wünsche ich mir, dass eine verantwortungsvolle Asylpolitik in der Lage ist, die Emotionalisierung und Aufspaltung der Bevölkerung zu verhindern. Im Grunde ist es unsinnig, in pauschaler Weise für oder gegen Flüchtlinge zu sein. Jeder von uns wünscht sich, dass möglichst wenig Menschen gezwungen sind, ihre Heimat als Flüchtlinge zu verlassen.

Österreich als offene Gesellschaft

Ein besonders großes Kompliment an ein Land ist es, wenn man sagen kann: Es ist ein friedliebendes Land, eine gefestigte Demokratie, mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung, eine Kulturnation, ein Land mit Lebensqualität und einer offenen Gesellschaft.

Das alles trifft in beträchtlichem Ausmaß auf Österreich zu. Am meisten mussten und müssen wir uns anstrengen, um das Prädikat "offene Gesellschaft" zu verdienen.

Was ist eine offene Gesellschaft? Der Ausdruck stammt von Karl Popper, dem 1902 in Wien geborenen und aufgewachsenen Lehrer und Philosophen, den ich persönlich gut gekannt habe. Als Student war Popper in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Kommunismus in Berührung gekommen, hat sich aber sehr bald und sehr entschieden davon abgewendet und auch den aufkommenden Nationalsozialismus genau und mit wachsendem Abscheu studiert.

Seine These, dass jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt mit seiner Entscheidung den Lauf der Dinge beeinflussen kann, hat mich ebenso überzeugt wie die Erkenntnis, dass niemand das Recht hat, anderen einen "Heilsplan" in politischer oder weltanschaulicher Hinsicht aufzuerlegen. Vielmehr muss jederzeit ein offener Meinungsaustausch samt Kritik und Widerspruch möglich sein.

Burkinis nicht verbieten

Nicht nur individuelle Machtträger, sondern auch Institutionen müssen sich ausnahmslos der Kritik stellen und veränderbar sein. Dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst (oder umgekehrt), aber dass wir zusammen der Wahrheit auf die Spur kommen werden, ist ein Leitgedanke von großer Relevanz für die Zusammenarbeit in der Politik.

Manches weit über seine reale Bedeutung aufgeblasene Thema würde sich gar nicht stellen, wenn man diesen Grundsatz anwendet. Die Forderung nach einem gesetzlichen Verbot der Ganzkörperverhüllung bei der heutigen Bademode islamischer Frauen (Burkini) oder die Kopftuch-Diskussion würden nicht den Weg in die Schlagzeilen finden, wenn man sich zu den Grundgedanken einer offenen Gesellschaft bekennt.

In Israel findet man an den Stränden Mädchen, die "oben ohne" baden, daneben Frauen mit Bikini und am gleichen Strand in Israel wohnende Araberinnen mit "Burkini". Niemand regt sich auf. Und worüber sollte man sich aufregen? Ist etwa Israel ein Land, dem in Fragen der inneren Sicherheit Sorglosigkeit vorgeworfen werden kann?

Ist es glaubwürdig, einerseits dauernd zu klagen, dass es in Österreich viel zu viele Vorschriften und Regelungen gibt, und gleichzeitig zu verlangen, dass sich Gesetzgeber und Polizei mit Badebekleidung beschäftigen?

Echte Sicherheitsmaßnahmen sind unverzichtbar, aber weder ein Burkini-Verbot aus Sicherheitsgründen noch ein Bikini-Verbot aus Sittlichkeitsgründen erscheinen mir sinnvoll.

Auch viele andere Antworten auf wirklich wichtige Fragen ergeben sich aus dem Konzept einer offenen Gesellschaft:Fremdenfeindlichkeitist nicht akzeptabel.Eingriffe in die Freiheit der Kunst sind nicht akzeptabel.Die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ist nicht akzeptabel. Und Pauschale Verunglimpfung anderer Kulturen oder Religionen ist schon gar nicht akzeptabel.

Warum ich Van der Bellen wähle

Kritik ist etwas anderes als Verunglimpfung, Beschimpfung oder Verächtlichmachung. Ich will nicht, dass sich ein politischer Stil entwickelt, der die Menschen massenhaft der Politik entfremdet.

Ich will zum Beispiel auch nicht, dass ein Mensch – ob Politiker oder nicht – mit (noch dazu frei erfundenen und falschen) Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand so massiv unter Druck gesetzt wird, dass er, um der Ausbreitung solcher Verleumdungen Grenzen zu setzen, seine medizinischen Befunde veröffentlichen muss.

Auf diese und viele andere Probleme kann und soll ein Bundespräsident Einfluss nehmen. Er kann sich zu Wort melden und wird Gehör finden, wenn er etwas zu sagen hat.

Ich werde den Enkelkindern später einmal erzählen, warum ich bei der Bundespräsidentenstichwahl am 22. Mai 2016 für Alexander Van der Bellen gestimmt habe, den ich seit Langem kenne und zu dem ich Vertrauen habe. Ich weiß heute noch nicht, welches Ergebnis die Wahl vom 4. Dezember 2016 bringen wird.

Aber ich werde durch meine Teilnahme an der Wahl und durch meine neuerliche Stimmabgabe für Universitätsprofessor Van der Bellen jene (Mit-)Verantwortung übernehmen, die dem Gedanken der Demokratie zugrunde liegt, für die wir alle Verantwortung tragen.

Und darum bitte ich alle wahlberechtigten Österreicher: Gehen Sie wählen!

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