Rotes Lüftchen gegen Haltung von Christian Kern

Bundeskanzler Christian Kern
In einem offenen Brief kritisiert die SPÖ-Basis die Haltung von Christian Kern in der Flüchtlingsfrage. Den Bundeskanzler erwähnen die Unterzeichner namentlich allerdings nicht.

In der SPÖ regt sich erneut Widerstand gegen den eigenen Chef bzw. gegen die Haltung von Christian Kern in der Flüchtlingsfrage. In einem offenen Brief fordern Eva Maltschnig, Vorsitzende der Sektion 8, Ilkim Erdost, SPÖ-Ottakring Bildungsvorsitzende, Laura Schoch, Vorsitzende der Sektion 5 und Markus Netter, Vorsitzender der Sektion am Wasserturm, einen "Stopp der Kraftmeierei".

Gemeint ist damit das derzeitige koalitionäre Gezanke um das Relocationprogramm der Europäischen Union. Österreich sagte zu, knapp 2.000 Flüchtlinge aus Italien bzw. Griechenland aufzunehmen. Vorerst sollen es aber nur 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sein. SP-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil hat vorgeschlagen, sich dem mehrmals zugestimmten Beschluss zu entziehen - Unterstützung bekommt er von Bundeskanzler Kern. Dieser verfasste einen Schreiben an EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Darin forderte er eine weitere Aussetzung des Programms, weil Österreich bereits 2015 und 2016 "zu einer erheblichen und über das Umsiedlungsprogramm hinausgehenden Entlastung der beiden Mitgliedstaaten beigetragen" habe.

ÖVP-Bezug: "NGO-Wahnsinn"

Diese Haltung geht der roten Basis zu weit und kritisiert im offenen Brief (siehe unten) ihren Chef - ohne den Bundeskanzler namentlich zu erwähnen. Vielmehr heißt es: "Es entspinnt sich ein unwürdiges Schauspiel vom Innenminister [Wolfgang Sobotka], der versucht den Bundeskanzler ausrutschen zu lassen."

https://images.kurier.at/46-85871582.jpg/255.072.917 AP/Ronald Zak Sebastian Kurz FILE - In this April 26, 2016 file photo, Austrian Foreign Minister Sebastian Kurz speaks during a press conference at a meeting with U.N. Secretary General Ban Ki-moon at the foreign ministry in Vienna, Austria. At the UN for the General Assembly, Kurz and Austria's Chancellor Christian Kern urged joint EU action on tightening up Europe's external borders and a "Marshall Plan" for countries responsible for most of the migrant influx to the continent to reduce incentives to leave. (AP Photo/Ronald Zak, File)

Das Schreiben, das Die Presse zuerst veröffentlicht hat, enthält im letzten Abschnitt indirekt mehr Anmerkungen zum schwarzen Koalitionspartner. So gehe der Rechtsruck in der EU mit einer "Politik der Lippenbekenntnisse zur Linderung von Leid in den Herkunftsländern" (1) und dem "Zynismus gegenüber Hilfsorganisationen" (2) einher.

Bei Punkt 1 könnte sich Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz angesprochen fühlen. In regelmäßigen Abständen spricht er sich für das australische Asylmodell aus. Dort fängt man Bootsflüchtlinge auf hoher See ab, schickt sie entweder zum Ausgangsland zurück oder interniert die Menschen in Aufnahmelagern in Papua-Neuguinea und Nauru. Zuletzt forderte Kurz eine Kürzung der Entwicklungshilfe für jene Länder, die abgelehnte Asylwerber nicht zurücknehmen.

Zum anderen hat der ÖVP-Politiker vergangene Woche NGO-Rettungsaktionen im Mittelmeer heftig kritisiert. Kurz sprach vom "NGO-Wahnsinn", der beendet werden muss (2).

SPÖ-Bezug: Solidarität

Freilich wird im 4.703 Zeichen langen Brief (inklusive Leerzeichen) auch Bezug auf die Politik der Sozialdemokratie genommen. Wenn zum Beispiel vom "Burgenlandminister" [Hans Peter Doskozil] die Rede ist, der Innenminister Sobotka ein "Haxl" stellen will. Oder vom "Aushöhlen von internationalen Vereinbarungen bei der ersten Gelegenheit" (das EU-Relocationprogramm, Anm.).

https://images.kurier.at/46-92425990.jpg/255.072.921 APA/HANS KLAUS TECHT KLUBTAGUNG DER WIENER SPÖ: BK KERN / BGM. HÄUPL ABD0044_20170324 - WIEN - ÖSTERREICH: BK Christian Kern (l.) und Bürgermeister Michael Häupl am Freitag, 24. März 2017, anlässlich der Klubtagung der Wiener SPÖ in Wien. - FOTO: APA/HANS KLAUS TECHT

Im Großen und Ganzen widmet sich der Brief der Verantwortung Österreichs in der Asylfrage. Aber zwei Sätze scheinen sich explizit auf SP-Chef Christian Kern zu beziehen: "Jahrelang haben VertreterInnen der SPÖ um europäische Zusammenarbeit und internationale Solidarität geworben. Wenn die eigenen politischen Forderungen endlich – nach langer Anlaufzeit auf Kosten von Menschen – ins Rollen kommen, darf man sich nicht zurück nehmen und auf vergangene Leistungen zeigen."

Übrigens stellte sich der Wiener Bürgermeister Michael Häupl sehr klar gegen die Linie von Kern und Doskozil. "Wir haben uns an geltende Beschlüsse zu halten. Die 50 nehme ich sofort in Ottakring."

Stopp der Kraftmeierei, her mit lösungsorientierter Europapolitik im Sinne der Realität und Vernunft.

Die Europäische Union ist in der Krise. Aus einer Wirtschafts- und Finanzkrise ist eine existentielle politische Krise geworden. Nach dem vorläufigen Höhepunkt – dem Brexit – scheint nix mehr fix angenagelt zu sein. Der destruktive Nationalismus der populistischen Rechten hat den politischen Mainstream anscheinend endgültig erfasst. Vor etwas mehr als einem Jahr stand es ganz oben auf der Agenda, die Zivilgesellschaft, die geflüchteten Menschen in Europa ein würdevolles Ankommen ermöglichen möchte, als „naive Willkommensklatscher“ hinzustellen. Konservative und Rechtspopulisten hatten damit Erfolg und immer öfter sind auch Sozialdemokraten Erfüllungsgehilfen rechter Politik geworden. Die Angst sich im politischen Eck der vermeintlichen Naivlinge wiederzufinden ist groß. „Realist“ ist in dieser kaputten Welt nur, wer Flüchtlinge per Abschreckung abhalten will zu kommen und Integrations- mit Sicherheitspolitik verwechselt.

2015 haben sich die Mitgliedsländer auf das Relocation-Programm geeinigt, doch die Umsetzung läuft schleppend. Es ist ein mühsamer Prozess. Insgesamt sollen mehr als 90.000 Personen innerhalb von zwei Jahren aus Griechenland und Italien auf die Mitgliedsländer aufgeteilt werden. Während Länder wie Portugal darauf warten, dass Menschen aus Syrien, dem Irak und anderen Krisenregionen bei ihnen ankommen, weigern sich Mitgliedsländer wie Polen, Ungarn und die Slowakei Menschen aufzunehmen. Bisher wurden mit dem Relocation-Programm nur 13.000 wirklich umgesiedelt. Österreich hat sich einen Aufschub geleistet und möchte diesen verlängern.

Doch die Zeit drängt. 180.000 Personen sind 2016 neu in Italien angekommen. Rund 80.000 mussten in dieser Zeit einen harten Winter in Hotspots auf den griechischen Inseln zubringen. Teils ohne fließendem Wasser, ohne Heizung, im hygienischen Ausnahmezustand warten Kinder, Familien und unbegleitete Jugendliche auf einen menschenwürdigen Neustart nach dem Krieg in Europa. Wir fragen uns: Was erzählen sie ihren Kindern vorm Einschlafen? Wie rechtfertigen sie vor ihren Kindern ihre Lebenssituation? Wie können sie ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten? Was sprechen sie untereinander über das „Friedensprojekt Europäische Union“? Wie fühlen sie sich, völlig allein gelassen, mitten in Europa aber trotzdem am Ende der Welt?

Es sind diese Prägungen der ersten Jahre in einem neuen Umfeld, die zukünftige Lebenschancen zu einem Großteil bestimmen. Ob jemand zwei Monate oder zwei Jahre auf eine würdige Unterbringung wartet, entscheidet darüber, wie lange ihr Weg in die Mitte unserer Gesellschaft dauern wird. Das ist nicht naiv, das sind Tatsachen. 1.900 Menschen müsste Österreich im Zuge des Relocation-Programms aufnehmen. Unter den mittlerweile 6.000 Personen, die für das Programm registriert wurden, sind 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie sind JETZT für Österreich vorgesehen.

Es entspinnt sich ein unwürdiges Schauspiel vom Innenminister, der versucht den Bundeskanzler ausrutschen zu lassen, dem Verteidigungsminister – oder wahlweise auch „Burgenlandminister“ (sic!) – der versucht wiederum dem Innenminister ein Haxl zu stellen. Mit den 50 Jugendlichen, die auf würdige Unterbringung warten, hat das nichts zu tun. Auch nicht mit den 1.900 Menschen, die in Österreich ihren Platz finden sollten. Dahinter steht die Agenda innen- und europapolitische Verhältnisse weiter nach rechts zu rücken. Die geht einher mit einer Politik der Lippenbekenntnisse zur Linderung von Leid in den Herkunftsländern, Zynismus gegenüber Hilfsorganisationen und dem Aushöhlen von internationalen Vereinbarungen bei der ersten Gelegenheit. So wird die Europäische Union weiter ihrer Wirksamkeit und politischen Relevanz beraubt. Das Relocation-Programm ist eine der wenigen solidarischen Einigungen in der EU beim Asylthema. Jahrelang haben VertreterInnen der SPÖ um europäische Zusammenarbeit und internationale Solidarität geworben. Wenn die eigenen politischen Forderungen endlich – nach langer Anlaufzeit auf Kosten von Menschen – ins Rollen kommen, darf man sich nicht zurück nehmen und auf vergangene Leistungen zeigen. 2015 war ein hartes Jahr und der Gegenwind ist eisig. Trotzdem haben wir Aufgaben im Sinne einer solidarischen Europäischen Union und im Sinne von Menschen, die sich ihre Situation nicht ausgesucht haben, zu erfüllen. Nicht nur ihretwillen, sondern vor allem unseretwillen.

Eva Maltschnig, Vorsitzende Sektion 8, AlsergrundIlkim Erdost, SPÖ-Bildungsvorsitzende, OttakringLaura Schoch, Vorsitzende Sektion 5, MariahilfMarkus Netter, Vorsitzender Sektion am Wasserturm, Favoriten

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