Ist Sebastian Kurz ein "politisches Talent"?
Mitte Mai, Wien, 24 Grad. Der Anzug sitzt, der erste Knopf des weißen Hemdes ist offen, zwischen Ober- und Unterarmen bildet sich ein rechter Winkel.
Hinter einem kleinen Stehtisch hat sich Sebastian Kurz positioniert. Mit seiner rechten Hand umschließt er die linke. Nur wenn er seinen Aussagen mehr Elan geben möchte, öffnet er den Griff und bewegt seine Unterarme – während der Oberkörper stets aufrecht bleibt. Am Sonntag, den 14. Mai, verkündet der 30-Jährige rechtzeitig zum Beginn der "Zeit im Bild", dass er das Angebot, neuer ÖVP-Chef zu werden, annimmt.
In der ergrauten Volkspartei kennt die Freude keine Grenzen. Selbst die sonst so kühlen ÖVP-Honoratioren schwärmen von Sebastian Kurz. Man ist eben entzückt von der neuen "Liste Sebastian Kurz".
Von Grasser bis Guttenberg
Aber warum nur? Warum reißen sich so viele um Kurz? Und warum glaubt man, dass er seine Partei – ob sie nun neu oder alt ist – an die Spitze des Landes hieven kann?
Im Grunde sind sich Sympathisanten und Medien einig: Sebastian Kurz ist ein "politisches Talent". Aber diese Antwort ist so einfach wie sie kompliziert ist. Denn galten nicht schon so viele als "politische Talente"? Karl-Heinz Grasser zum Beispiel, oder auch der über die Plagiats-Affäre gestolperte Karl-Theodor zu Guttenberg, Deutschlands ehemaliger Wirtschafts- und Verteidigungsminister. Hingegen durfte sich Angela Merkel, die seit mehr als einem Jahrzehnt Deutschland regiert, nur selten mit dem "politischen Talent" schmücken - selbst in ihren Anfangsjahren.
Es stellt sich die Frage, wann bezeichnen wir jemanden als "politisches Talent"? Also: Was zeichnet ein "politisches Talent" aus? Über Sebastian Kurz liest man zum Beispiel Zuschreibungen wie "brillanter Kommunikator", "Symbolfigur für eine Politik jenseits von Gut und Böse", "Organisationstalent" und rhetorisch "perfekt trainiert, zumeist fehlerfrei". Kurz werden die "besten Manieren" bescheinigt und bei den Wiener Iran-Gesprächen glänzte er als "guter Gastgeber".
Wir suchen nach jemandem mit Haltung
Aber ist das wirklich alles? Dürfen wir uns als Gesellschaft von einem "politischen Talent" nicht mehr erwarten als Gastfreundlichkeit; als jemanden, der konziliant im Ton ist und dessen Vokabular auch Danke und Bitte beinhaltet? Ja, das dürfen wir. Gerade in Zeiten, in denen so vieles, auf das wir bisher bauen konnten, langsam zu bröckeln beginnt oder bereits zusammengebrochen ist: politische Parteien, sozialstaatliche Absicherungen, familiäre Traditionen.
Wonach sehnen wir uns in dieser haltlosen Welt? Nach Halt, oder: nach Haltung. Ein Politiker soll Flagge zeigen. Er darf sich nicht winden und drehen, nur um der Mehrheit zu gefallen. Er darf auch nicht einknicken, wenn es einmal brenzlig wird.
"Man muss aufrecht stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden", notierte der römische Kaiser Marc Aurel (121-180 n. Chr.). Selbst angesichts widrigster Umstände im Krieg gegen die Quaden und Markomannen (166-180 n. Chr.) blieb der Philosoph seiner stoischen Haltung treu. Wer Haltung hat, zeigt Rückgrat.
Haltung zu besitzen ist aber nicht so einfach. Man muss nämlich flexibel genug sein, um auf Veränderungen reagieren zu können. Zwar kann unser Nachbar von sich behaupten, eine tolerante Haltung zu haben. Aber wie tolerant er dann wirklich ist, zeigt sich erst, wenn wir eine Party feiern. Oder jemand mag eine weltoffene und liberale Haltung haben und trotzdem die Grenzöffnung problematisch finden.
Frank Underwood, das "politische Talent"?
Aber welche Haltung müsste der Politiker haben? Platon (427-347 v. Chr.), Griechenlands Paradephilosoph, sprach sich – nicht gerade überraschend – für eine philosophische Haltung aus. Besonnen, aber nicht geldgierig; frei von niedereren Gesinnungen, aber weder Prahler noch Feigling; gerecht und milde, aber maßvoll und edel.
Der italienische Theoretiker Niccolò Machiavelli (1469-1527) widersprach Platons Doktrin und empfahl Politikern danach zu trachten, "in jeder seiner Handlungen den Ruf eines großen und hervorragenden Mannes zu bewähren". Von Haltung ist in seinem Werk "Il Principe" (dt. "Der Fürst", 1532) keine Rede. Es ist nämlich völlig egal, wie der Politiker zur Macht kommt. Jedes Mittel ist recht; Gesetze und Moral spielen keine Rolle.
Frank Underwood, der fiktive Politiker der US-Serie "House of Cards", ist wohl das markanteste Produkt des Machiavellismus. Für seine Interessen geht er über Leichen. Zeit, sich um Anstand und Integrität zu bemühen, hat er keine. Er tötet, lügt, intrigiert und zerstört. Aber er gibt sich auch fürsorglich, um das Vertrauen seiner Mitmenschen zu erlangen. "Ein Fürst muß sowohl den Menschen wie die Bestie zu spielen wissen", beschrieb Machiavelli den Oberherrn.
Wer führt uns zum Gipfel?
Politik, so weit sind wir heute, bedeutet allerdings mehr als Macht. Unsere Politiker müssen Verantwortung tragen und Führungsqualitäten haben. Früher waren es Herrscher und Feldherren, die mit Genialität und Charisma den Lauf der Geschichte prägten. Große Persönlichkeiten wie Napoleon (1769-1821) oder Karl der Große (vermutlich 747-814). Heute bedeutet Führung aber nicht mehr Kommando und Kontrolle, sondern Dialog, Überzeugung und Vertrauen.
Im Unternehmen ist es der Chef, der uns auf die Schulter klopft und für neue Ideen begeistert. In der Politik trifft man heute vermehrt auf den Typus "Manager", oder "Slim-Fit"-Politiker. In maßgeschneiderten Anzügen stehen sie auf dem Podium, verzichten auf viel Schmuck und Prunk, erzählen aber in feinster Rhetorik, welche Visionen sie für ihr Land haben. Schon der Management-Theoretiker Peter Drucker (1909-2005) prägte den Spruch: "Management bedeutet, die Dinge richtig zu tun. Führung heißt, die richtigen Dinge zu tun."
Gute Führung
Was bedeutet in der Politik "gute Führung"? Sich etwa an Zielen zu orientieren, im festen Glauben, dass man diese Ziele auch erreichen kann? Donald Trump ist so ein Beispiel. Der US-Präsident versteht sich selbst als "Manager der USA". Er krempelt seine Ärmel hoch, packt an und will um jeden Preis seine Ziele umsetzen - komme, was wolle. Sollen Politiker auf diese "Jetzt-erst-recht"-Mentalität setzen? Reüssiert man damit wirklich?
Stellen wir uns einen Bergführer vor, der genau so denkt. Er wäre vermutlich ein verwegener Kerl, der selbst den widrigsten Umständen trotzt, im festen Glauben, dass er mit seinen besonderen Fähigkeiten schon das Richtige tun wird. Doch plötzlich bemerken seine Schützlinge, dass er im Grunde überhaupt keinen Tau hat, wo sie sind. Der Bergführer hat seine Kameraden nicht nur ins Nichts geführt; er hat keine Alternative, keinen Plan B.
Am Ende reicht es eben nicht, sich darauf zu berufen, rhetorisch perfekt zu sein und hohe Ziele verfolgt zu haben. Gute Führung besteht darin, dass man sich auf Unvorhergesehenes vorbereitet. Der Bergführer könnte seinen Schützlingen zeigen, wie sie sich im Notfall selbst retten können, statt sich nur auf ihn zu verlassen.
Wer charismatisch ist, erzeugt Hingabe
Nicht die Inszenierung zählt, sondern das Ergebnis des Handelns, mahnte Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts. Der deutsche Soziologe vertrat die Meinung, dass der Politiker verantwortungsvoll handeln müsse, nicht bloß Krisen verwalten. "Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut", heißt es im Essay "Politik als Beruf" (1919).
Aber während zur kaiserlichen Zeit in Deutschland Politiker nur das gewisse Maß an Autorität und Machtmittel benötigten, um die Gefolgschaft der Untertanen zu sichern, bedurfte es Anfang des 20. Jahrhunderts einer besonderen Eigenschaft: Charisma. Wer charismatisch ist, erzeugt Hingabe und Gefolgschaft. Der charismatische Führer befolgt eben nicht vorgegebene Regeln (oder das abstrakte Parteiprogramm). Vielmehr bestimmt er selbst die Richtung der Politik gemäß seiner Ideale und Werte, setzt die Zwecke und entscheidet über die Mittel.
Genau so beschrieb Max Weber den Politiker nach dem Ersten Weltkrieg. Dass danach ausgerechnet ein Führer kommen würde, der zwar als charismatisch wahrgenommen, aber vollkommen verantwortungslos, irrational und in höchstem Maße verbrecherisch agieren würde, hat er damals nicht vorausgesehen.
Woran erkennt man Kurz' "politisches Talent"?
Kurz größtes Atout ist freilich, dass er sowohl jugendlichen Elan als auch Politikerfahrung besitzt. Viele ÖVP-Granden und Medien sehen in ihm deshalb einen charismatischen Führer, der für die Modernisierung und das Aufbrechen veralteter Strukturen steht; leidenschaftlich für seine Interessen brennt; zuerst immer sachlich analysiert und dann adäquate Schlüsse zieht.
Justin Trudeau, kanadischer Premier, und Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident, sind die besten Beispiele dafür, dass charismatische Führer der Politik neues Leben einhauchen. Kurz versucht, seine "Bewegung" ähnlich aufzuziehen. Die Volkspartei hat er schon in eine kollektive Hysterie kippen lassen. Sein Umfeld hängt ihm an den Lippen, seine Gefolgsleute schätzen ihn.
Aber ein "politisches Talent" ist immer auch ein Star. Und diese hören bekanntlich nach einiger Zeit auf zu funkeln – spätestens dann, wenn Sachpolitik wieder mehr gefragt ist als Show. Fragen Sie doch SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Sein Stern ist nach wenigen Wochen gerade dabei, zu erlöschen.
Hinweis des Autors: Ich kann leider nicht auf alle Kommentare antworten. Wir können aber gerne über das Thema des Artikels ("Was macht ein politisches Talent aus?") diskutieren. Sie erreichen mich unter der E-Mail-Adresse juergen.klatzer@kurier.at.
"Selbstbetrachtungen" von Marcus Aurelius Antonius: Reclam Verlag (1949)
"Politeia" von Platon: Reclam Verlag (1982)
"Il Principe" von Niccolò Machiavelli: Insel Verlag (2011)
"Leviathan" von Thomas Hobbes: Reclam Verlag (1970)
"Mitarbeiterführung kompakt" von Reinhold Haller: Midas Management Verlag (2009)
"Politik als Beruf" von Max Weber: Anaconda Verlag (2014)
"Wirtschaft und Gesellschaft" von Max Weber: Mohr Siebeck (1980)
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