Eine schlaflose Nacht ist Londons Bankern sicher

Bei Nein zur EU wackeln 100.000 Jobs in der Geldbranche, warnen Lobbyisten – Händler rechnen mit turbulenten Marktreaktionen.

Seltsame Sitten. Wer im "Green Man"-Pub sein Pint-Glas abstellt, liest auf dem Bierdeckel: "Raus!" Gemeint ist raus aus der EU. Tim Martin, Gründer der Pub-Kette JD Wetherspoon, ist vehement für den Brexit. Der 1,98-Meter-Hüne legt extra Broschüren auf, die Stimmung gegen die EU machen. Auch im "Green Man", mitten in Londons Finanzdistrikt, wo viele Banker einkehren.

"Die Stimmung in der City of London ist sehr angespannt, hier gibt es mehr potenzielle Verlierer als Gewinner", sagt Ralf Böckle, Finanzattaché der österreichischen Botschaft. Viele Banker haben nach der Krise bereits den Job verloren.

Bei einem Nein zur EU würden 100.000 Stellen wackeln, behauptet die City of London Corporation. Sie vertritt die Brancheninteressen und amtiert nur einen Steinwurf vom "Green Man" entfernt. Viele Briten sind von den schrillen Tönen freilich so genervt, dass sie das gar nicht mehr hören. Das Motto der Kampagnen laute Angst (gegen Brexit) versus Lügen (pro Brexit), ätzen Zyniker.

Dabei steht für die "Square Mile" der City, das drei Quadratkilometer große Areal, in dem sich eine Bank, Versicherung und Fondsgesellschaft an die andere drängt, viel auf dem Spiel. Hier und im früheren Hafenviertel, der todschicken Canary Wharf, ist alles mit Glaspalästen vertreten, was in der Welt des Geldes einen Namen hat. Die japanische Bank Nomura, US-Rivale JP Morgan, das Schweizer Institut Credit Suisse, die britische HSBC, gegründet als Hongkong and Shanghai Banking Corporation. Sie alle profitieren von den EU-Passport-Rechten: Von London aus dürfen sie Finanzgeschäfte im ganzen europäischen Wirtschaftsraum tätigen. Und nach dem EU-Austritt? Ginge nichts ohne neue Verträge. Und die könnte jedes der übrigen 27 EU-Länder blockieren.

Wie Pfund-Krise 1992

Viele wälzen schon Abwanderungspläne. JP Morgan-Chef Jamie Dimon plant, ein Viertel der 16.000 britischen Angestellten auf den Kontinent zu verlegen. HSBC würde 1000 der 5000 Investmentbanker nach Paris schicken. Deutsche-Bank-Chef John Cryan, ein Brite, kündigt an, die Euro-Währungsgeschäfte abzuziehen. Citigroup, Morgan Stanley, Goldman Sachs und UBS erwägen, Teile des Geschäftes zu verlegen. Ganz sicher weg wäre die EU-Bankenaufsicht (EBA) mit ihren 150 Mitarbeitern, das hat deren Chef Andrea Enria angekündigt. Wohin würden die Banken abwandern? Nach Paris oder Frankfurt, wie der britische EU-Kommissar Jonathan Hill fürchtet? Das kostet den in Hongkong ansässigen Investor Charles Gave ein Schmunzeln. "Die Deutschen sind gute Industrielle, aber keine Financiers. Dafür nehmen sie Geld viel zu ernst." Wer habe denn die Finanzzentren London, New York, Hongkong gegründet? "Immer die Briten", sagt Gave, der dem möglichen Brexit gelassen entgegensieht. So entspannt sind in London nur einige Hedgefonds-Manager, die die Chance wittern, dass sich die Briten den verhassten EU-Regeln entziehen, um attraktiv zu bleiben. London als ultraliberales Offshore-Zentrum? Schwierig. Die Bankenregeln und der Kampf gegen Steuerflucht gelten global, dem könnten sich die Briten nicht entziehen. So oder so: Eine schlaflose Nacht ist den Bankern sicher, denn Turbulenzen wird es geben. Viele erinnert das an den "Schwarzen Mittwoch" 1992, als das Pfund aus Europas Wechselkurs-Mechanismus katapultiert wurde. "Auf solche Tage freut man sich", sagt ein Anleihenhändler: "Da gibt es viel Geld zu verdienen. Oder zu verlieren."

Werden wir einen „Schwarzen Freitag“ an den Börsen erleben, wenn sich die Briten gegen die EU entscheiden? „Ich glaube nicht, dass wir einen Exit erleben“, sagt Markus Koch, der als der deutsche Börsenprofi an der New Yorker Wall Street gilt. Und selbst wenn sich die Briten für einen EU-Austritt entscheiden sollten, „ist es ja nicht so, als würde man einen Lichtschalter umlegen“.
Nach ein, zwei Wochen heftiger Schwankungen an den Aktienbörsen würden sich die Kurse wieder erfangen, sagt Koch. Denn dann würden sich die Investoren darauf besinnen, dass ein Brexit „eher ein nationales Problem der Briten ist“. Zudem würden sich Verhandlungen mit der EU drei bis sieben Jahre lang hinziehen.

Aber natürlich wären am Freitag kurze Kursübertreibungen möglich – sowohl nach oben, wenn die Briten bleiben, als auch nach unten. Schuld daran ist auch, dass sich die Großanleger in den letzten Wochen sukzessive aus den Märkten zurückgezogen haben, um abzuwarten. Die Konsequenz: „Wir haben sehr wenig Liquidität an den Märkten, damit sind große Übertreibungen möglich.“

Viel mehr als ein möglicher Brexit beschäftigt Koch, dass es viele Bewegungen gegen das Establishment gebe. „Der Aufschrei nach Veränderungen belastet die Kapitalmärkte.“ Unsicherheiten wären in einem ohnehin sehr fragilen Finanzsystem gar nicht gut. Ganz abgesehen von einem Brexit sieht Koch auch das restliche Börsenjahr nicht sehr rosig.

Kurze Beine„Ein gewisses Overshooting wird es schon geben“, sagt Wolfgang Habermayer für die Tage nach der Briten-Abstimmung voraus. Der Chef der Merito Financial Solutions in Wien, die Großanleger berät, sagt aber auch: „Politische Börsen haben kurze Beine.“ In der Regel würden sich nach politischen Entscheidungen die Bewegungen an den Aktienmärkten relativ rasch wieder beruhigen. Sein Rat: „Warten, bis sich die Dinge beruhigen, und dann überlegen, wo man investieren will.“ Aber auch Habermayer meint, dass Europa ganz unabhängig von politischen Terminen Probleme habe, die die Börsen beschäftigen. Die Wirtschaft in Europa wachse weniger stark als jene der USA. Große Sprünge, was die Produktivität betrifft, seien auch keine in Sicht.

Die Börsenprofis sind überzeugt: An den Aktienmärkten kann es kurz rund gehen. Sollte das Pfund abstürzen, werden aber die Notenbanken mit Stützungskäufen eingreifen.

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