Ein Afghane unterm Christbaum

Sami feiert bei seiner österreichischen Familie, Georg und Sylvia, Weihnachten
Ein Wiener Ärzte-Ehepaar hat wie so viele andere einen jungen Schutzbedürftigen aufgenommen. Heute Abend feiert er mit der ganzen Familie erstmals Weihnachten.

Sami, pack deine Sachen, wir fahren!“ Das waren die ersten Worte, die ich zu dem jungen Afghanen sagte. Er stand in einem der großen Lager in Wildon in der Steiermark und blickte verzweifelt. In dem Moment dachte ich mir nur: Wir schaffen das. Ich bin Psychotherapeutin, gemeinsam mit meinem Mann haben wir fünf Kinder großgezogen, die längst alle ausgezogen sind. Platz ist also vorhanden. So hatte ich nur wenige Tage, bevor ich Sami das erste Mal sah, in Wien meine Bereitschaft bekundet, einen Flüchtling bei uns aufzunehmen. Dann ging alles recht schnell. Seit zwei Monaten lebt Sami nun schon bei uns.

Flucht

Sami kommt aus dem Norden Afghanistans, Taliban-Land. Sein Vater und sein Onkel wurden erschossen. Sami, der in Afghanistan sowohl für das amerikanische wie das deutsche Militär gearbeitet hatte, war auch in Gefahr, er wollte weg. Sein Weg ging quer über den asiatischen Kontinent über Istanbul nach Budapest und dann nach Wien.

Traiskirchen, Erdberg, Steiermark, Wien. Jetzt ist der 21-Jährige bei uns angekommen. Er geht jeden Tag in die Währinger Albertus-Magnus-Schule, wo von engagierten, freiwilligen und großartigen Lehrern für Flüchtlinge ein Deutschunterricht ermöglicht wird. Er trainiert ein Mal pro Woche Rugby beim Rugby Club Donau. Dort wurde ein eigenes Projekt initiiert, „Rugby Opens Borders“. Und meistens, wenn er jetzt nach Hause kommt, dann strahlt Sami.
Jetzt hat Sami, der so lange auf der Flucht war, einen Alltag. Schule, essen, lernen, Sport und viel, viel reden. Sami kann recht gut Englisch und so wird sein Leben, seine Lebensgeschichte, aber auch die Geschichte und das Leben in Afghanistan für mich und meinen Mann Georg deutlicher, konkreter.

Ich gebe zu, ich weiß auch nicht, warum bisher alles so toll klappt. Es liegen ja nicht Tausende Kilometer zwischen Samis Geburtsort und Wien, sondern Welten. Mädchen gemeinsam mit Burschen in der Schule, Frauen am Steuer, das kannte Sami nicht. Ein Problem war das aber nicht eine Sekunde lang für ihn. Unsere Werte gefallen ihm offenbar. Und der hilfsbereite und respektvolle Umgang mir gegenüber ist wirklich berührend. Wir zeigen ihm, wie wir den Alltag gestalten, vom Tisch decken bis zu Essensgewohnheiten. Er ist Vegetarier, das verhilft auch uns zu gesünderem Essen. Manchmal kochen wir gemeinsam und so hab’ ich schon gelernt, wie man die Kerne ganz einfach aus einem Granatapfel löst. Er wäscht seine Wäsche selbst und bügelt sogar die Socken.

Der kulturelle Unterschied unter meinen einst fünf pubertierenden eigenen Kindern war eher größer als jetzt mit einem Jugendlichen aus Afghanistan. Dafür bin ich nun konfrontiert mit abstrakten Begriffen wie Grundversorgung, weiße oder grüne Identitätskarte, subsidiäres Aufenthaltsrecht, Asylantrag, Aylverfahren. Sami ist der eine, für den ich jedenfalls erreichen will, dass er hierbleiben kann. Ich begleite ihn zur Caritas und zum Amt für Asylwesen und muss feststellen, welchem Andrang die Beamten ausgesetzt sind. Tausende Menschen, die bleiben wollen, Hunderte täglich, die eine Nummer ziehen. Und hoffen.

Wieder daheim beim Fernsehen, bei den Nachrichten über Krieg und Terror in der Welt, merke ich, wie Sami in sich zusammensinkt. Ich helfe ihm, alle Wörter zu verstehen, die berichtet werden, frage aber nicht nach seinen Erinnerungen. Aber ich staune, wie es möglich ist, dass jemand aus einer so anderen Welt, mit Erlebnissen, die ich mir nicht einmal vorstellen mag, mir als Mensch so nahe ist. Gestern, am 23. Dezember, ist er extra früh aufgestanden und zur Schule gegangen, um mit seinen Mitschülern die Weihnachtsmesse zu feiern. Danach, bei einem Spaziergang durch die Wiener Innenstadt, beim Eintauchen in den Weihnachtskult und beim Versuch, Weihnachten, Weihnachtsmärkte und vor allem Punschstände mit dem karitativen Kampftrinken zu erklären, werden wir eher über die eigene als über die fremde Kultur nachdenklich.

Bei den Weihnachtsfeiern wurden Weihnachtslieder gesungen und Sami singt sie uns voll Stolz vor. Es ist schön zu sehen, wie „Stille Nacht, heilige Nacht“ auf jemanden wirkt, der dieses Lied zum ersten Mal hört. Und da bemerke ich, wie der Advent tatsächlich etwas vom Ankommen hat.

Aber nun wird weiter Deutsch geübt. „Die Nase, das Ohr, der Mund, das Gesicht.“ Georg hofft, aus Sami den ersten Flüchtling des Flüchtlingsjahres 2015 zu machen, der keinen Artikelfehler mehr macht.

Autorin: Sylvia Gaul

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