Merkel gibt die Weltenretterin - und schafft es nochmal

Merkel nach der Wiederwahl: Das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Polit-Karriere - und dennoch eine Erleichterung.
Schon länger hatten sich die CDU und ihre Chefin entfremdet. Am Parteitag inszeniert sie sich als konservative, emotionale, demütige Verbinderin – und versöhnt die Partei, die sie mit 89,5 Prozent wiederwählt.

Herr Strickstrack lächelt, als die Kamera auf ihn schwenkt. Erwartungsvoll sitzt er in der ersten Reihe, wie immer, wenn die CDU zum Parteitag ruft – wenn seine CDU, seine Partei sich trifft: Helge Strickstrack ist mit seinen 95 Jahren der einzige noch lebende von jenen 386 Delegierten, die 1950 unter Konrad Adenauer die CDU gründeten.

"Guten Tag, Herr Strickstrack", sagt Angela Merkel vom Rednerpult herab, auch sie lächelt. Sie begrüßt ihn, das lebende Denkmal der Partei, stets persönlich. Der einnehmende Mann mit den grauen Haaren hat sie ja auch einmal ein "Geschenk Gottes" genannt. Vielen Parteigängern war sie, die seit 16 Jahren die Geschicke der Partei lenkt, und der sie sich heute am Parteitag in Essen stellt, auch lange ein "Geschenk" gewesen. Manchem war sie sogar auch schon lebendes Denkmal – zumindest als sie jenseits der 40 Prozent regierte. Seit dem schwierigen Jahr 2015 – seit Flüchtlingskrise, Überforderung und Dauerstreit mit der CSU – ist aus Angela Merkel wieder eine angreifbare Politikerin geworden. Ihr Status als ewig scheinende Parteivorsitzende wankt bedrohlich.

"2015 darf sich nicht wiederholen"

"Das war ein unglaubliches Jahr", sagt Merkel dann auch gleich zu Beginn ihrer Rede. Ihr ist mehr als bewusst, worum es heute geht, das will sie auch gar nicht leugnen. "Eine Situation wie im Spätsommer (2015) kann, soll und darf sich nicht wiederholen", sagt sie eindringlich. Das ist keine Herzensbotschaft, sondern mehr ein Stück kluger Pragmatismus. Die kritischen Stimmen in der CDU will sie so endlich zum Verstummen bringen – jene eben, die sich vor dem Parteitag zusammentaten, um sie für eine radikale Abänderung ihrer Migrationspolitik zu zwingen. Sie will ihnen zu verstehen geben, dass sich ja schon längst etwas geändert habe im Land, dass Gesetze verschärft, die freundliche Haltung gegenüber Asylsuchenden aufgegeben worden seien. Allein, angekommen ist das bisher nie: Ihr, dem Gesicht der Willkommenskultur, wollte das die Partei nie wirklich abnehmen. Die immer als so emotionslos abgetane Merkel kämpft bis jetzt mit dem "Stigma" der Gutherzigen.

"Gesicht zeigen"

Das Gesicht, das sie heute zeigt, ist aber tatsächlich ein anderes. Es ist konservativ, nicht mehr liberal, es ist genau das, was sich die Menschen im Saal wünschen: Als Merkel sagt, dass "Vollverschleierung verboten werden sollte", dass man in "Deutschland Gesicht zeigen sollte", wird gejohlt. Merkel hält nach dem wohl progressivsten Jahr ihrer Amtszeit eine Rede, die sich nicht nur auf den konservativen Markenkern der CDU besinnt, sondern vor allem auf ihren eigenen. Dass sie in einer "Welt, die aus den Fugen gerät", ein stabiler Anker sein kann und auch will, betont sie mehr als einmal. Dafür zitiert sie nicht nur Hamlet, sondern auch Helmut Kohl – "Europa ist eine Frage von Krieg und Frieden", sagt sie. Und die Botschaft ist klar: Sie stellt sich zur Verfügung – nicht nur als CDU-Chefin und als Kanzlerin, sondern als Brückenbauerin in einem sich selbst zerfleischenden Europa.

Wir, das Volk

Dass dazu für sie eine scharfe Abgrenzung nach rechts gehört, wird auch mit Applaus quittiert. "Wer das Volk ist, das bestimmt bei uns noch immer das ganze Volk. Und nicht ein paar wenige, und mögen sie auch noch so laut sein", sagt sie. Hier haben nicht nur Wahlen in den USA, sondern auch jene in Österreich ihre Spuren hinterlassen – Anbiederungen an die AfD gehören jedenfalls nicht zum Repertoire der CDU, das macht Merkel heute ganz klar. Dass ausgerechnet Hofer-Unterstützer Reinhold Lopatka als Ehrengast vorne im Publikum sitzt, entbehrt da nicht einer gewissen Ironie.

Das ist es aber nicht allein, was viele im Saal überzeugt. Da ist auch noch die Emotion, die Merkel 2015 von ihrer Partei entfremdet hat, die sie jetzt in andere Bahnen lenkt: Als sie davon spricht, wie es war, nach 1989 "ins Offene zu gehen", als sie sagt, dass sie auch jetzt noch immer weiter "in dieses Offene gehen will", dass sie Angst um die Freiheit in Europa hat, ist der Saal auf ihrer Seite. Und als sie noch demütig hinzufügt, dass sie dafür die Hilfe aller braucht – "ihr müsst, ihr müsst mir helfen", sagt sie da lautstark –, kommt kaum Zweifel mehr daran auf, dass der Saal ihr auch ein viertes Mal ins Kanzleramt helfen will.

Herr Strickstrack lächelt erneut, als das Ergebnis ihrer Wiederwahl bekannt gegeben wird. 89,5 Prozent sind zwar lang nicht das beste Ergebnis ihrer Karriere – aber eine große Erleichterung.

Angela Merkel hat gewusst, dass sie etwas tun muss. Lange, beinahe zu lange hat sie die Kritiker aus der Partei ignoriert, nicht hingeschaut, wie viele CDUler Richtung AfD abdriften.

Beim Parteitag in Essen hat sie nun die Reißleine gezogen – und eine Kampfansage gegen die Rechtspopulisten formuliert, die vor allem die Partei befrieden sollte, aber auch als überfälliges Angebot an die Wähler dient. In der CDU rumorte es, weil sich die Partei entkernt fühlte; zwar hat Merkels Motto, den Gegner durch "Zu-Tode-Umarmen" seiner Inhalte zu berauben, ihr SPD- und Grün-Wähler beschert, doch den Umgang mit dem Feind von rechts machte das nicht einfach. Wie soll man konservative Wähler einfangen, wenn man zeitgleich für liberale Werte steht? Wie soll man eine Partei kleinkriegen, deren Entstehung man selbst befördert hat?

Dass das funktionieren kann, muss Merkel beweisen. Sie hat nicht plump rechtspopulistische Inhalte kopiert, sondern eine rote Linie nach rechtsaußen gezogen – und zeitgleich das konservative Vakuum, das sie selbst erzeugt hat, gefüllt. Schon jetzt hat Deutschland eines der schärfsten Asylgesetze – diesmal war es Merkel auch ein Anliegen, das zu kommunizieren: Neben einem Nein zur Scharia kann ein Ja zu Toleranz stehen, so ihre Botschaft.

Die CDU hat sie dafür mit viel Applaus bedacht – 89,5 Prozent Zustimmung bei der Wiederwahl hätte Merkel vor einigen Montanen nicht erwarten können. Man hatte in Essen sogar einen ähnlichen Eindruck wie bei Frankreichs Konservativen: Die CDU hat verstanden, dass das Gespenst, das durch Europa geistert, nicht mit Parolen, sondern nur mit Inhalten zu besiegen ist. Bleibt zu hoffen, dass sich davon auch jene angesprochen fühlen, denen etwas anderes fehlt: die Glaubwürdigkeit in der Politik.

(Evelyn Peternel)

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