Arbeitslos in Österreich: Alles "Durchschummler" oder was?

Die Warteschlange im AMS ist mitunter lang
Die Hängematte-Debatte ist wieder da: Wer keinen Job hat, steht unter Sozialschmarotzer- Verdacht und soll bestraft werden. Aber ist das wirklich so ein Problem? Der KURIER-Faktencheck.

Das Österreichische kennt so viele Namen für ihn. Den Tachinierer, den Owizahrer, den Sozialschmarotzer, wenn man ganz tief greifen will. Jenen Menschen also, der das System ausnutzt, sich vom Staat durchtragen lässt, und dabei auf seine Verantwortung pfeift.

Arbeitslos in Österreich: Alles "Durchschummler" oder was?
ABD0043_20180110 - WIEN - ÖSTERREICH: BK Sebastian Kurz (l.) und VK Heinz Christian Strache beim Pressefoyer nach einer Sitzung des Ministerrates am Mittwoch, 10. Jänner 2018, in Wien. - FOTO: APA/ROLAND SCHLAGER

Diesem "Durchschummler", wie die Regierung ihn nun nennt, will Türkis-Blau zu Leibe rücken. "Es kann nicht Aufgabe der Allgemeinheit sein, die zu finanzieren, die sich mit Ausreden beim AMS durchschummeln", ließ Sebastian Kurz wissen; sein Vize Heinz-Christian Strache folgte fast wortgleich: "Durchschummler" dürften nicht glauben, dass sie durchgetragen würden – ihnen will man, ganz nach dem deutschen Vorbild Hartz IV, darum auch aufs Vermögen zugreifen.

Aber: Wie viel ist dran, an dem Vorwurf, es gebe so viele Tachinierer hierzulande?

Auf den ersten Blick stimmt der Vorhalt jedenfalls nicht. Die Zahl jener, die – um im Österreichischen zu bleiben – nicht hackeln wollen, ist äußerst gering. Zwar strich das AMS 2016 (jüngere Zahlen sind noch nicht verfügbar) in 103.804 Fällen temporär Arbeitslosengeld oder Notstand, doch nur 16 Prozent betrafen wirkliche

"Missbrauchsfälle" wie die Verweigerung einer Arbeit oder Schulung. Die große Mehrzahl der Sanktionen wurde verhängt, weil ein Arbeitsloser einen AMS-Kontrolltermin versäumt hat (56 Prozent) – oder einfach, weil er selbst gekündigt hat und daher einen Monat auf das erste Arbeitslosengeld warten musste (28 Prozent).

Kaum Totalverweigerer

Die wirklichen Totalverweigerer sind damit so etwas wie die Restgröße. Bei insgesamt 960.700 Personen, die 2016 ein- oder mehrmals arbeitslos waren, wurde in nur 236 Fällen das Arbeitslosengeld ganz gestrichen. Zwar muss man hier dazusagen, dass das AMS – weil die Beweislast bei ihm liegt – nur in den handfesten Fällen Sanktionen ausspricht, aber selbst wenn man diese Dunkelziffer hinzunimmt, ist das Gros der Joblosen aktiv und scheitert bei der Suche eher an äußeren als an inneren Faktoren.

Arbeitslos in Österreich: Alles "Durchschummler" oder was?
Grafik, Gerhard Deutsch

Sieht man sich dazu die durchschnittlichen Bezugsdauern an, erhärtet das auch nicht den Verdacht, das Land sei voller Leistungs-Erschwindler. Arbeitslosengeld wird durchschnittlich dreieinhalb, Notstand sechseinhalb und die Mindestsicherung für achteinhalb Monate ausbezahlt – das sind Werte, die durchaus im Rahmen liegen.

Dazu kommt, dass das System schon jetzt sehr restriktiv ist. Als Arbeitsloser hat man eine gewisse Zahl an Bewerbungen abzuschicken und genau Protokoll über seine Aktivitäten zu führen; und wer Notstand oder Mindestsicherung beantragt, dessen Vermögen wird genau abgefragt. Der viel diskutierte "Zugriff aufs Vermögen" findet demnach jetzt schon zum Teil statt: Notstandshilfe bekommt nämlich nur, wer glaubhaft eine Notlage nachweisen kann.

Bei der Mindestsicherung sind die Bestimmungen noch schärfer: Wer mehr als 4200 Euro besitzt, muss das Geld aufbrauchen, bevor er die Leistung beziehen darf; und wer eine Eigentumswohnung oder ein Haus besitzt, der hat nach einem halben Jahr den Staat im Grundbuch stehen. Erschleichen kann man sich als Vermögender die Leistung so kaum.

Nicht nur, dass diese Fälle höchst selten sind – in Wien, wo mit 190.000 Personen das Gros aller Mindestsicherungs-Bezieher wohnt, gab es im Vorjahr gerade einmal 481 Abweisungen wegen Vermögen und 213 Grundbuch-Eintragungen. Die Betroffenen müssen das Geld später auch refundieren: Wer Eigentum hat und es aus der Mindestsicherung wieder heraus schafft, muss alle Leistungen zurückzahlen – jeden Euro.

Künftig weniger Freiräume

Das liebe Geld ist auch der eine Grund, warum die Debatte so scharf geführt wird. Denn auch wenn man selbst für die Arbeitslosigkeit vorsorgt, muss der Staat das System aus dem Budget subventionieren – Geld, das die Politik gern anderswo einsetzen will.

Der andere Grund ist ein handfester ideologischer – es geht um Leistung und darum, diese zu erbringen. Nachschärfen will Türkis-Blau deshalb dort, wo es noch Freiraum gibt: So soll die Möglichkeit, neben Arbeitslosigkeit oder Notstand geringfügig dazuzuverdienen, zeitlich beschränkt werden – z.B. auf einen Monat. Auch wenn hier der Beschluss noch aussteht, ist die Stoßrichtung klar: Man will den Druck auf Arbeitslose erhöhen, Jobs rasch anzunehmen, statt sich mit AMS-Geld und einem geringfügigen Job zufrieden zu geben. Das Problem dabei: Viele Vollzeit-Jobs im schlecht qualifizierten Bereich bringen oft kaum mehr.

Ähnlich vertrackt ist es bei den Krankenständen – sie sollen den Bezug von Arbeitslosengeld nicht mehr unterbrechen. Derzeit sind echte – und auch erfundene – Krankheiten eine der beliebtesten Methoden, um den Leistungsbezug zu verlängern, erzählen Auskenner. Hier will man also ein Problem beseitigen, dass tatsächlich viele "Durchschummler" erwischt – aber freilich auch viele echt Kranke treffen wird.

Coach (49):
Wenn die zu gute Qualifikation zum Problemfall wird

„Die typische Arbeitslose“, sagt Sigrid B., sei sie nicht. „Aber andererseits: Was ist schon typisch?“

Seit gut einem Jahr sucht die 49-Jährige Arbeit, und eigentlich müsste man meinen, so lang dürfte das nicht dauern: Im Lebenslauf der Wienerin stehen neben einer akademischen Tourismus-Ausbildung Theaterpädagogik, Coaching, Training und PR; sie hat Kulturprojekte durchgeführt, eine Leitungsfunktion besetzt.

Warum sie dennoch nichts Adäquates findet? „Ich bin sicher für einige Stellen überqualifiziert oder die Organisation meint, ich wäre vielleicht zu teuer“, sagt sie. Dazu kommt das Alter: Gerade im Aus- und Weiterbildungsbereich gehe der Trend ja nicht in Richtung gut bezahlter Stellen bei Älteren, sagt sie. „Jüngere werden lieber genommen.“

Faulheit, die in der Debatte ja oft mitschwingt, will sie sich nicht unterstellen lassen. „Ich bin nicht diejenige, die dasitzt und wartet, ich suche ganz offensiv und bin selbst aktiv“, sagt sie. Problematisch sei es da eher, dass das Arbeitsamt in Fällen wie ihren „nur ein Verwaltungsapparat“ sei. „Das AMS hat mir noch nie etwas vermittelt.“

Finanziell kommt Frau B. derzeit gut über die Runden. „Ich bin jetzt im Notstand, verdiene geringfügig was dazu, um mir eine Selbstständigkeit aufzubauen – ich mache Workshops und Projekte im Kulturbereich sowie im Training, aber das ist noch zu wenig für einen guten Lebensstandard“, sagt sie. Momentan gehe das gut – doch die Regierung will diese Zuverdienstmöglichkeit von 425 Euro im Monat bekanntlich kappen. „Dann“, sagt Sigrid B., „wird es wirklich schwierig.“

Tischler (54):
"1100 Euro netto, das war allen Firmen zu viel"

Genommen hätte er damals eigentlich alles, sagt Herr Manfred – wenn da nicht das liebe Geld gewesen wäre. „1100, vielleicht 1200 Euro netto, das war allen zu viel“, sagt der gelernte Tischler, der seinen echten Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Seinen Job bei einer Sonnenschutzfirma hatte der Oberösterreicher wegen eines längeren Krankenstandes verloren; was folgte, war ein Spießrutenlauf: Mit seinem Alter – Ende 40 – sei er immer zu alt gewesen, und ein „so hohes Gehalt“ wollte ihm keiner zahlen.

Seine Geschichte ist kein Einzelfall. Trotz fünf Bewerbungen pro Woche und viel Eigeninitiative fand er nichts – „1200 Euro Verdienst, 1000 Euro Arbeitslose, da passt ja was nicht“, sagt er. Problematisch sei aber nicht die Höhe der Unterstützung, denn mit der komme man gerade so aus – „ich hab ja zwei Kinder zu ernähren gehabt“ –, sondern dass die Löhne so niedrig seien. „Viele haben mir geraten, doch ein bissl zurückschrauben. Aber das geht ja nicht.“

Mit den Kürzungen, die geplant seien, hätte er sein Auslangen nie gefunden, sagt er. Freilich, er kenne auch wen, der arbeitslos sei und nur im Kaffeehaus sitze, dem gehöre ein Riegel vorgeschoben. Aber bei allen kürzen, das gehe nicht: „Dann nimmt man sich ja einen Strick.“

Wichtiger wäre es, beim AMS anzusetzen, dort liege einiges im Argen: „Von zehn vermittelten Stellen waren sechs schon besetzt“, sagt er. Einmal sei der Job schon seit einem halben Jahr vergeben gewesen. Den Job, den Herr Manfred jetzt hat, „auf den bin ich selbst gekommen“, sagt er. Und: „Man muss froh sein, in meinem Alter Arbeit zu haben.“

Spediteurin (51):
"Die Leute sagen, geh arbeiten. Aber so einfach ist das nicht"

Krankheit. Heute vor zwei Jahren, da war Michaela Pfeiffer-Spatschek dort, wo sie nie wieder hin will. Anfang 2015 verlor die Speditionskauffrau, die offen ihren Fall schildert, die Arbeit, in der Firma wurde umstrukturiert. „Eigentlich war ich da guter Dinge“, sagt sie, „ich war gerade erst 49, und schließlich habe ich 30 Jahre in dem Beruf gearbeitet.“

Gekommen ist es anders. Es folgten zwei Jahre Arbeitslosigkeit, begleitet von schwerer Krankheit – eine Kopf-OP machte ihr zu schaffen. „Bei den Bewerbungsgesprächen hat man natürlich gemerkt, wie es mir geht.“ Doch selbst als es körperlich wieder besser wurde, fand sie nichts: „Ich bin so oft als überqualifiziert abgelehnt worden, oder man hat mir gesagt, ich sei zu alt“, sagt die Linzerin.

Emotional war das „eine ganz schlimme Zeit“, sagt die 51-Jährige. Das Selbstvertrauen, das man für die Suche brauche, schwinde ebenso wie die sozialen Kontakte – ein Teufelskreis. Und das AMS helfe ebenso wenig wie gute Ratschläge: „Viele sagen einem: Geh’ halt arbeiten, es kann ja nicht so schwer sein, Arbeit zu finden. Aber so einfach ist das nicht.“

Auch die knapp 900 Euro, die sie im Notstand bekam, reichten kaum – allein 420 beträgt ihre Miete. „Ich habe jeglichen Schmuck verkauft, um Geld zum Leben zu haben. Das letzte waren meine Eheringe. Ich hatte das Gefühl, mein Leben zu verraten.“
Die Wende brachte ihr die Aktion 20.000, über die sie jetzt beim Verein EXIT-sozial eine Stelle fand. Viele aus dem Büro hätten ihr gesagt, wie sehr sie sie schätzen, sagt Pfeiffer-Spatschek, und erstmals klingt sie fröhlich. „Ein Lob, mit dem ich erst umgehen lernen muss.“

Der Krankenstand-Schmäh:
"Die Frage ist immer, um welchen Preis geht man arbeiten"

Lieber daheim.Der typische „Durchschummler“ lässt sich beim AMS nicht finden. Niemand stellt sich hin und sagt, ich will prinzipiell nicht arbeiten. Was es gibt, sind die Tricks, um länger die Arbeitslose zu bekommen, um nicht jeden Job annehmen zu müssen. AMS-Berater erzählen aus der Praxis – etwa vom Krankenstand-Schmäh.

Wer am 1. März den Job als Regalschlichter partout nicht will, bekommt Ende Februar die Grippe. Zumindest bestätigt das der Arzt. Zwei Wochen daheim fallen nicht weiter auf. Herr M. ist länger arbeitslos und will es bleiben – so lange es geht. Er arbeitet nebenbei geringfügig, ab und zu pfuscht er am Wochenende: Ausmalen, Fliesenlegen. Im Monat kommt er manchmal auf 1300 Euro. Kaum ein Vollzeit-Jobs, den es für ihn als Hilfsarbeiter gibt, wirft mehr ab.

„Die Leute wollen ja, aber es muss sich auszahlen. Die Frage ist immer, um welchen Preis geht man arbeiten“, sagt der Berater. Er ahnt, wie es weitergeht: Am 1. März erscheint Herr M. nicht im Supermarkt, er ist ja im Krankenstand, die Arbeitslosigkeit verlängert sich um diese Zeit nach hinten. Der Supermarkt verliert das Interesse und stellt jemand anderen ein. Das AMS kann keine Sperre verhängen, M. wollte die Arbeit ja, aber es ging eben nicht.

Drei Wochen später fängt die AMS-Schulung an. Herr M. will den viermonatigen Kurs machen. Der Berater hat Einsehen und genehmigt den PC-Kurs am WIFI. Der Clou: Die Schulung verlängert erneut die Arbeitslosigkeit. Es gibt das Arbeitslosengeld plus zwei Euro am Tag für das Öffi-Ticket. Den Kurs sitzt M. irgendwie ab. Es geht sich für ihn aus.

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