Nationalsozialisten dringend gesucht
Sie hatten ihn wochenlang in Dunkelhaft gesteckt, ihn so schwer geprügelt, dass seine Nieren ein Leben lang nicht mehr gut funktionieren sollten. Jetzt aber, im Dezember 1945, war der ehemalige KZ-Häftling Leopold Figl erster gewählter Kanzler der Zweiten Republik. So hatte er über den Umgang mit jenen NS-Verbrechern zu entscheiden, deren Opfer auch er geworden war. Doch wenige Monate, nachdem nur das Kriegsende verhindert hatte, dass ein NS-Todesurteil an ihm vollstreckt wurde, wollte der ÖVP-Politiker vor allem eines: Keine Konfrontationen mit den ehemaligen Nazis.
700.000 gab es nach dem Krieg in Österreich. Das war nicht nur ein bedeutendes Reservoir für Wählerstimmen, sondern vor allem eines für Fachleute, an denen es nach Kriegsende überall fehlte. Figl begann sich umgehend für die Rehabilitierung von Beamten des Hitler-Regimes einzusetzen, ebenso für Richter und Ärzte.
Lieber Nazis als Juden
Sein politisches Gegenüber, Bundespräsident Karl Renner von der SPÖ, war da ganz auf derselben Linie. Auch er plädierte für die rasche Lockerung der Bestimmungen für die Entnazifizierung. Man brauche eben Ärzte, argumentierte er, "die jüdischen sind weg, die Nazi-Ärzte außer Dienst gestellt."
Die geflohenen Juden dagegen zurückzuholen, davon hielten weder Renner noch Figl viel. Der SPÖ-Bundespräsident meinte, danach sei die Stimmung in Österreich derzeit nicht und der ÖVP-Bundeskanzler kommentierte erste jüdische Forderungen auf Entschädigung und Rückgabe von arisiertem Eigentum mit dem Kommentar: "Die Juden wollen halt rasch reich werden."
Antisemitismus in Österreich schätzte er als unbedeutend ein: "Es gibt nirgendwo so wenig Antisemitismus und so viel Duldsamkeit wie bei uns." Figls Beleg: Er kenne einen Juden in Bad Gastein, der prahle, schon 120.000 Schilling und vier Anzüge erwirtschaftet zu haben: "Das österreichische Volk ist nicht so geschäftstüchtig."
Vom Antisemitismus bei seinen Landsleuten wollte auch Renner nicht allzu viel bemerkt haben. Den Wienern etwa, meinte er, seien "antisemitische Tendenzen vollkommen fremd".
Beschwichtigung bis hin zum Totschweigen wurde zum politischen Prinzip der ersten Nachkriegsjahre. Die Gerichte wickelten, nachdem die schlimmsten Nazi-Verbrecher abgeurteilt waren, all die Minderbelasteten nach dem Prinzip Schwamm drüber ab: Freispruch auf Freispruch folgte.
"Den Geist der Lagerstraße" – immerhin waren 12 der 17 Mitglieder der ersten Bundesregierung im KZ gesessen – nannte man den Versuch, die traditionelle Feindschaft zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen zu überwinden. Doch bevor man diese Gräben zuschüttete, streckten beide Parteien lieber den oft wenig reumütigen Nationalsozialisten die Hand entgegen.
Die hatten zwar im VdU – der Vorgängerpartei der heutigen FPÖ – ihr eigenes Auffanglager, doch der Lockruf der Großparteien, die viel bessere Posten zu vergeben hatten, war unüberhörbar.
Die SPÖ versuchte vor allem Akademiker auf ihre Seite zu ziehen, hatte die Arbeiterpartei, die auch noch viele jüdische Mitglieder verloren hatte, gerade da riesige Lücken. Der Bund sozialistischer Akademiker, kurz BSA, machte die Türen auf - und die Augen zu. Selbst als ein gewisser Heinrich Gross, Psychiater, als BSA-Mitglied die ärztliche Karriereleiter hinaufstieg, kümmerte sich lange niemand um dessen NS-Vergangenheit. Gross war für die Ermordung Hunderter Kinder verantwortlich.
Als junger Student schrieb Ferdinand Lacina mit, als der Historiker Taras Borodajkewycz an der Hochschule für Welthandel antisemitische Hetzparolen vortrug und Hitler verherrlichte. Die Aufzeichnungen des späteren Finanzministers wurden zur Grundlage für den "Fall Borodajkewycz", der 1965 die Republik erschütterte. Im KURIER-Interview schildert er die Allgegenwart rechtsradikalen Gedankenguts im Österreich seiner Jugend.
Wie war die politische Grundstimmung auf der Hochschule?
Ferdinand Lacina: Liberaler Geist war damals nicht zu finden. Bei den Professoren fand man alle Spielarten des österreichischen Faschismus. Einige waren ja ehemals hochrangige Vertreter des Ständestaats. So machte sich ein Professor offen über die Förderung von Arbeitsplätzen für Behinderte lustig und meinte: Behinderte sollten schnell gesund werden, oder schnell sterben. Dafür gab es im Hörsaal übrigens donnernden Applaus. Ich konnte das alles anfangs kaum glauben, habe es aber bald als Normalität gesehen.
Und die Studenten?
Was die Kollegen betrifft, erinnere ich mich an eine Begegnung. Ich saß im Hof und las ein Buch, das sich mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzte. Ein Kollege sah das und meinte nur: "Gib das Buch weg, das is’ nur ein Dreck." Die freiheitliche Studentenverbindung RFS hat ja bei uns damals 30 Prozent gehabt.
Wie haben Sie es zuvor in der Schule erlebt?
Im Gymnasium war es nicht so schlimm. Natürlich waren mein Klassenvorstand und andere gefangen in der Sichtweise der Nazis auf den Zweiten Weltkrieg. Es gab auch Skurrilitäten wie, dass wir Goethes Faust in einer Ausgabe aus der Nazi-Zeit lasen, in der im Vorwort Hitler mit Faust verglichen wurde.
Gab es ein Bewusstsein für die Nazi-Verbrechen?
Bei uns zu Hause, wir waren ja aus der tschechischen Minderheit, natürlich. Meine Eltern waren nicht sehr politisch, aber sie wussten von den KZ, den anderen Verbrechen der Nazis. Ich war oft fassungslos, wie viele Menschen meinten, sie hätten von all dem nichts gewusst. Wir gingen protestieren gegen Kameradschaftsbund-Aufmärsche, bei denen offen Nazi-Orden getragen wurden.
Wie war es in der SPÖ?
Uns Jungen war klar, dass unsere eigene Partei den Mythos von Österreich als Opfer Hitlers pflegt und um Stimmen ehemaliger Nazis wirbt. Wir waren da in Opposition zu einigen in der Parteiführung.
Wie stand es um die österreichische Identität?
Der Nationalfeiertag hieß ja damals noch weithin "Tag der Fahne", einfach weil Österreich als Nation bei vielen noch umstritten war. Im allgemeinen Sprachgebrauch sagte man: "Wir haben den Krieg verloren" und bezeichnete das Ende des Dritten Reiches als "Umbruch". Eine Befreiung war das damals für viele Österreicher nicht. Das haben sie so erlebt und auch an ihre Kinder weitergegeben.
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