Misshandelter 14-Jähriger war nicht haftfähig

Misshandelter 14-Jähriger war nicht haftfähig
Die Kritik an den Umständen im Jugendstrafvollzug wird immer lauter. Justizministerin: "Tut mir wirklich leid."

In dem Fall eines 14-jährigen Jungen, der in der Justizanstalt Wien-Josefstadt von drei Mitgefangenen mit einem Besenstiel vergewaltigt wurde, kommen weitere schockierende Details ans Licht.

Das Vergewaltigungsopfer war laut einem Gutachten nämlich gar nicht haftfähig. Wie die Salzburger Nachrichten berichten, ist der Jugendliche vor seinem Haftprüfungstermin von der Wiener Jugendgerichtshilfe eingehend untersucht worden. Bei dieser Untersuchung wurde allerdings festgestellt, dass er keine normale geistige Entwicklung aufweist.

Demnach war der Jugendliche nicht in der Lage, zusammenhängende Sätze zu sprechen. Zudem habe er Schwierigkeiten gehabt, Fragen zu beantworten. Er habe auch das Unrecht seiner Tat - Handyraub mit einem Messer - nicht richtig einschätzen können. Experten sollen ihm deshalb die Reife eines Zehnjährigen und einen IQ von 70 attestiert haben. Er sei also gar nicht straffähig gewesen.

"Er hätte nie ins Gefängnis gehört"

Im ORF-Ö1-Mittagsjournal hatte sich Gefängnislehrer Wolfgang Riebniger zu dem Fall geäußert: "Der hätte nie ins Gefängnis gehört, oder zumindest nach kürzester Zeit entlassen." Man habe auch schriftlich gegenüber dem Gericht auf die vermutete Strafunfähigkeit hingewiesen.

Misshandelter 14-Jähriger war nicht haftfähig
Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP) hatte zuvor erklärt, die Verhältnisse im Jugendvollzug seien "so gut wie nie". Und: "Wir sprechen hier von Jugendlichen, die eine schwere Straftat begangen haben." Am Freitag bestätigte sie allerdings, dass "Fehler passiert sind". "Aus heutiger Sicht hätte man das Opfer nicht in diese Zelle sperren dürfen. Das war ein Fehler, das muss man zugeben", stellte Karl am Nachmittag auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz im Palais Trautson fest.

Karl zeigte sich in der Pressekonferenz persönlich betroffen vom Schicksal des misshandelten Häftlings. "Ein 14-jähriger, der in staatlicher Obhut missbraucht wird, das darf es nicht geben", stellte sie fest. Unter Bezugnahme auf vorangegangene, nicht unumstrittene mediale Auftritte stellte sie klar: "Es tut mir sehr leid, dass da ein falscher Eindruck entstanden ist. Es tut mir leid, dass das falsch rübergekommen ist."

Sie werde "alles tun, um dem Opfer die notwendige Unterstützung zu geben", versicherte Karl. Zur grundsätzlichen Problematik meinte sie, U-Haft dürfe bei Jugendlichen "nur das absolut letzte Mittel sein". Sie habe dem 14-Jährigen "einen persönlichen Brief geschrieben, wo ich mein Bedauern zum Ausdruck bringe", erklärte Karl. Sie werde auf allfällige Schadenersatzforderungen des in der Nacht auf den 7. Mai in einer Mehrpersonenzelle der Justizanstalt Wien-Josefstadt missbrauchten Burschen "rasch und unbürokratisch" reagieren.

Taskforce Jugend U-Haft

Es stelle sich "die berechtigte Frage ans Gericht, ob die lange U-Haft verhängt hätte werden müssen", sagte Karl. Noch deutlicher wurde Pilnacek: Die Behörden hätten einem Bericht der Jugendgerichtshilfe "ein höheres Augenmerk" schenken müssen, der dem inhaftierten 14-Jährigen verminderte geistige Reife bescheinigte. Statt den Burschen gleich freizulassen, hatte die zuständige Richterin ein zusätzliches psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben. Der 14-Jährige blieb in Folge dessen mehr als drei Wochen weiter in Haft, ehe die Sachverständige am 10. Juni den Befund der Jugendgerichtshilfe bestätigte und der Bub auf freien Fuß gesetzt wurde.

Informationen über die Entwicklungsstufe und Entwicklungsreife von jugendlichen U-Häftlingen müssten zukünftig schneller bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten ankommen, "um Haft zu verkürzen oder gar nicht entstehen zu lassen", deponierte Pilnacek. Die Justizministerin kündigte in diesem Zusammenhang die Bildung einer "Taskforce Jugend U-Haft" aus Vertretern der Kriminalpolizei, Richtern, Staatsanwälten, der Jugendgerichtshilfe und dem Verein Neustart an, die für jugendliche Straftäter rasch Alternativmaßnahmen zur U-Haft entwickeln soll.

Zu wenig Personal

SPÖ-Kinder- und Jugendsprecherin Angela Lueger hat in diesem Zusammenhang die rasche Wiedereinführung des Jugendgerichtshofes gefordert. "Jugendliche haben sich eine Chance auf Resozialisierung verdient. Daher brauchen wir dringend wieder einen Jugendgerichtshof", sagte Lueger. Es könne nicht sein, Jugendliche mit erwachsenen Straftätern zusammenzusperren und sie aus Gründen der Personalnot wegzusperren. "Diese furchtbare Situation führt zwangsläufig zu Missständen. Es braucht daher spezielle Einrichtungen für Jugendliche und gleichzeitig mehr Personal", erklärte Lueger.

Am Freitag gab es außerdem von mehreren Seiten Kritik an den Umständen im Jugendstrafvollzug. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Gefangenenhausseelsorger Österreichs, Christian Kuhn, führte am Freitag im Gespräch mit der katholischen Nachrichtenagentur Kathpress die angespannte Personalsituation im Strafvollzug an. Der Seelsorger: "Ist der Staat nicht in der Lage, Menschen während der Haft zu schützen, darf er sie nicht verhaften. Es ist völlig unverhältnismäßig, etwa wegen eines Einbruchs in Untersuchungshaft zu kommen und Opfer eines schlimmeren Verbrechens zu werden." Kuhn wandte sich jedoch gegen eine Schwarz-weiß-Diskussion: "Weder passiert der aktuelle Vorfall täglich, noch ist es ein Jahrhunderts-Einzelfall - leider." Auch in Zeiten des früheren Jugendgerichtshofes seien die Verhältnisse nicht problemlos gewesen.

Kuhn bezeichnete es als "eines der großen Probleme in jedem Gefängnis, wie man schwache Gefangene vor Übergriffen durch Mitinsassen schützen kann". Justizwachebeamte seien aufgrund ihrer Ausbildung heute dafür "sehr sensibilisiert", ganz besonders für die früher weitaus eher hingenommene sexualisierte Gewalt. Der Seelsorger konstatierte aber, dass besonders in der Justizanstalt Josefstadt die beengten Raumverhältnisse "nicht ideal" seien. "Gerade bei Jugendlichen kann der Energiestau aufgrund der pubertären Lebensphase dadurch sowie bei fehlenden Aktivitäten explodieren." Dazu kommt die nach Meinung Kuhns "sehr dünne" Personaldecke: Speziell wenn aufgrund von Zwischenfällen wie etwa Spitalsbegleitungen oder Gerichtsterminen mehr Personal nötig sei, würden dafür Freizeitaktivitäten zuerst gestrichen - "wie etwa Fußball, jedoch auch die Seelsorge".

Die Salzburger Kinder- und Jugendanwältin Andrea Holz-Dahrenstaedt konstatierte: "Wenn Jugendliche aufgrund von Straftaten im Gefängnis landen, und dort selbst Opfer strafbarer Handlungen werden, hat der Staat seinen Obsorgeauftrag, Jugendlichen Halt, Schutz und Orientierung zu bieten, zur Gänze verfehlt." Sie verwies auf einen anderen Fall in Salzburg, wo erst unlängst ein 15-jähriger aus Mangel an Alternativen drei Monate in U-Haft unter Erwachsenen verbracht habe.

Seit einigen Tagen sage ich mir, dass ich nichts darüber schreiben mag, weil es mich so aufregt. Deshalb schreibe ich jetzt darüber. Es muss sein.

Der Auftritt von Justizministerin Beatrix Karl in der ZiB2 zu der Vergewaltigung eines 14-Jährigen in der Justizanstalt Josefstadt hat mich ausnahmsweise - man ist ja viel gewöhnt - zu sehr bewegt, zu sehr verstört, zu sehr erzürnt.

Dabei geht es mir aber nicht um irgendwelchen Parteien-Verkehr, um Wahlkampf-Getöse, um links-rechts-oben-unten, um schwarz-rot-blau-grün-wasweißich. Mir geht es um einen Menschen. Um eine Frau, die sich in ihrer staatstragenden Funktion in ein TV-Studio setzt und dort in läppischen neun Minuten all das offenbart, was mich an der Politik so anwidert.

NLP-Marionetten und Parteiroboter

Liebe Politiker, Ihr übertrainierten NLP-Marionetten und gefühlsverstümmelten Parteiroboter: Könnt Ihr wirklich nicht mehr Ihr selbst sein? Wo ist Euer Herz? Eure Empathie? Eure Sensibilität? Wo ist die Ehrlichkeit? Das Gewissen? Die Emotion? Wo auf Eurem Weg habt Ihr mit der Seelenhygiene aufgehört?

Ja, ich verallgemeinere. Ein Effekt, den ich mir ausnahmsweise gestatte.
Denn Beatrix Karl ist kein Einzelfall. Aber ihr Auftritt war so entlarvend, dass mir mitunter richtig übel wurde.

Was ist das für eine Ministerin, die wiederholt von einem ("mehr als bedauerlichen") Einzelfall spricht und dabei die vielen gegenteiligen Fakten verdrängt? Was ist das für eine Ministerin, die im Stakkato ihrem grandios verbesserten System huldigt und dabei völlig die Betroffenheit aus den Augen verliert (sogar die gespielte)? Was ist das für eine Ministerin, die sagt "Strafvollzug ist kein Paradies" inklusive "Die Zustände waren noch nie so gut wie jetzt" und uns damit Ansätze von "Selber schuld" suggeriert? Die hinter der Maske von Erklärung und Rechtfertigung so viel Zynismus und Verachtung verbirgt?

Gruselige Einblicke

Was ist das für eine Ministerin, die beschwichtigend erklärt, sie sei keine Sozialromantikerin und "niemand kann eine Garantie abgeben, dass ein solcher Fall nicht mehr passiert", statt ihre Verantwortung klar und deutlich zur Sprache zu bringen und zu sagen: "So etwas darf in einer Demokratie, in einem Land Österreich, in meinem Zuständigkeitsbereich nie mehr passieren, und dafür werde ich kämpfen"?

Was ist das für eine Ministerin, die ihrem Interviewer live vor Hunderttausenden Zusehern ins Gesicht sagt "Ich habe erst heute davon erfahren" – und sich dann stotternd aus der peinlichen Affäre ziehen will? Was ist das für eine Ministerin, die auf die Frage von Armin Wolf, ob sie sich schon entschuldigt hätte, zu lachen beginnt? Die gar nicht mehr aufhört zu grinsen (ob es Hohn oder eine unbewusste Übersprungshandlung war, sollen Experten erläutern)? Die nicht die Größe hat, im Namen der Republik ihrer Rolle gerecht zu werden, sondern wie ein trotziges Kind erklärt: "Ich entschuldige mich gerne bei ihm, aber ich sehe hier nicht meine Schuld darin."?

Was ist das für eine Ministerin, die auf die simple Frage nach einer Entschädigung allen Ernstes und ohne Nachdenkpause sagt: "Das kann ich juristisch nicht beurteilen."? Die gleich danach das sprechmethodische Themenwechsel-Programm in der perfidesten Auslegung offenbart - "Das muss man sich genau ansehen, das werden wir uns genau ansehen, aber mir geht's jetzt wirklich einmal darum ..." Die sich nicht dabei geniert, die neuerliche Entschädigungsfrage mit "Das muss erst geprüft werden, bitte ich kann als Justizministerin nicht da sitzen und mit dem Geld um mich werfen" aus der Welt schaffen zu wollen? Um dann gütig und gönnerhaft abzuschließen mit: "Und wenn die Prüfung ergibt, dass so etwas möglich ist, gerne"?
Eine Entschädigung für einen 14-Jährigen, der in der Obhut des Staates vergewaltigt und schwer verletzt wird, ist ein saloppes "So etwas"?

Sprache kann so verräterisch sein. Sie kann so gruselige Einblicke gewähren. Sie kann eine Psyche in rasender Geschwindigkeit offen legen?

Moralische Gratwanderung

Beatrix Karl war gestern Abend kalt. Eine launige Spaziergängerin am moralischen Grat. Eine Politikerin, die eilig und obsessiv damit beschäftigt ist, in erster Linie sich, ihre Partei und ihr System zu verteidigen. Dabei darf sie sich auf gar keinen Fall einen Fehler zugestehen.

Und genau daran krankt dieser ganze Apparat. Er ist von Zurückweisung, Projektion und Ignoranz zerfressen und menschlich ausgehöhlt. Er erlaubt keine Tränen, aber er lacht uns aus. Er kotzt mich an.

Ob Beatrix Karl als Konsequenz eines symptomatischen Handelns zurücktreten soll, ist mir einerlei. Ich fordere gar nix. Ich wünsche mir nur eine dringend notwendige Investition, von mir aus auch gerne aus Steuergeld:

Liebe Politikerinnen und Politiker, kauft Euch Spiegel und schaut Euch an!

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