Eismann wird "gläserner Mensch"

Wissenschaft: Die Gletscherleiche ist das wohl besterforschte Individuum der Welt.

Menschen in sterilen Kitteln mit OP-Handschuhen und Mundschutz rücken dem Toten zu Leibe. Die Szenerie gemahnt an eine CSI-Folge. Da wie dort haben es die Wissenschaftler auf DNA-Material abgesehen. Insgesamt kaum drei Gramm entnahmen sie im November 2010 der weltberühmten Leiche für die erste umfassende Erbgut-Analyse an Ötzi.

Monatelang war das Team um Albert Zink, Leiter des "Instituts für Mumien und den Gletschermann an der Europäischen Akademie Bozen" (EURAC), damit beschäftigt, die Millionen Computer-Datensätze in klare wissenschaftliche Aussagen umzuwandeln. "Was wir aus der DNA-Analyse schon definitiv sagen können, ist, dass Ötzi - nicht wie angenommen - blau-graue, sondern braune Augen gehabt haben muss", sagt Zink.

Mit der detaillierten Veröffentlichung der neuen Erkenntnisse lassen sich die mehr als 30 beteiligten Forscher an ca. zehn Universitäten Zeit: Sie soll das Highlight des 20-Jahr-Jubiläums im Herbst werden. Und dann wird sich wohl wieder alle Welt auf die geheimnisvolle Feuchtmumie stürzen - wie damals.

Rückblick auf den März 1991: Stürme wehen Sahara-Sand bis in die Alpen. Unter der Sommersonne schmelzen die mit diesem Lösungsmittel bestäubten Gletscher nur so dahin. Wegen dieser Klima-Kapriole gab das Eis im Herbst viele Leichen frei. Ötzi als sechste.

Teure Totenschau

Etwa 70 Wissenschaftler-Teams aus zehn Ländern machten sich an die teuerste Totenschau der Geschichte. Der Steckbrief stand bald fest: Ein Mann, 160,5 cm groß, 50 kg schwer, durchtrainiert, nicht weniger als 40 und nicht mehr als 53 Jahre alt, ermittelten die Universitäten Innsbruck und Stockholm anhand der Knochen. Lebenszeit: 3350 bis 3100 v. Chr., durch Radiokarbonmessung bestimmt von Labors in Oxford, Uppsala und Zürich.

Er muss ein gemachter Mann gewesen sein, besaß ein wertvolles Kupfer-Beil, trug Leggings aus feinstem Ziegenleder, dreilagige Schuhe aus Bärenfell. Bei der genauen Inspektion der Leiche fand der Konservierungsbeauftragte Eduard Egarter Vigl heraus, dass "der Eismann feingliedrige Hände und Füße, keinerlei Schwielen, jedoch auffällig starke Muskelansätze an den unteren Extremitäten hatte". Also kein schwer arbeitender Bauer? "Das war jemand, der viel zu Fuß im Gebirge unterwegs war."

Wo? Auf diese Frage gab eine Isotopen-Analyse die Antwort: Der Zahnschmelz jedes Menschen speichert Spurenelemente aus Wasser und Essen, die er im Alter von drei bis fünf aufnimmt. Seine Knochen wiederum enthalten das Abbild der letzten zehn bis 20 Jahre.

Geochemiker verglichen Ötzis Zähne und Knochen mit Wasser und Gestein der Region. Das Ergebnis: Daheim war der Eismann wohl südlich des Fundortes im Eisacktal, wahrscheinlich in Feldthurns. Seine letzten zehn Jahre verbrachte er vermutlich im Etschtal. Hier an der warmen Sonnenseite der Alpen siedelten Menschen seit der Jungsteinzeit.

Fundgrube Magen

Bis ins tiefste Innere des Eismannes sind die Forscher vorgedrungen, haben ermittelt, was er zuletzt gegessen hat (Fleisch von Steinbock und Rothirsch, dazu Einkornbrot). Dass ihn der Peitschenwurm, ein lästiger Darmparasit, plagte, und dass er auf seinem letzten Weg mit dem Wasser aus den Bergbächen auch Pollen der Hopfenbuche aufnahm. Das zumindest verrät der Speisebrei aus Ötzis Dickdarm. Warum das wichtig ist? Weil Archäobotaniker daraus Ötzis Todeszeitpunkt ableiten konnten. Es muss Frühling gewesen sein, denn die Hopfenbuche blüht von April bis Juni.

Ein Fingernagel wiederum zeigt drei sogenannte Beau-Streifen: Querfurchen bedingt durch Wachstumsstörungen, die auf schwere Krankheit oder großen Stress hindeuten. Die Ötzi-Forscher interpretieren das so: Im letzten halben Lebensjahr des Eismannes musste sich Dramatisches abgespielt haben, das Schlimmste zwei Monate vor seinem Tod - eine zweiwöchige Stress-Phase. Die, wie wir heute wissen, in Ötzis Ermordung gipfelte.

Wer nun meint, die detaillierte Erforschung einer mehr als 5000 Jahre alten Leiche sei ein Selbstzweck, irrt: Durch die Entschlüsselung des gesamten Eismann-Genoms seien unzählige Türen aufgegangen, sagt sein Leibarzt Egarter Vigl. Neues Operationsbesteck aus Titan wurde entwickelt, um Proben ohne Kontaminierung der Mumie entnehmen zu können. Das ist heute Standard. Auch Verfahren zur 3-D-Rekonstruktion, die jetzt in der Medizin gang und gäbe sind, wurden zuerst für Ötzi entwickelt. Für die Zukunft will Albert Zink herausfinden, "ob die Anlagen für die heute weit verbreiteten Zivilisationskrankheiten Diabetes, Herzerkrankungen, Arteriosklerose bereits vor 5000 Jahren da waren, um Strategien zu ihrer Bekämpfung zu entwickeln."

Rundumschau im Erbgut

Mit der totalen Rundumschau im Genom haben die Forscher gute Chancen, dass das gelingen könnte. "Ötzi ist bald das, was kein Privatbürger sein möchte - der gläserne Mensch", sagt der Tübinger Humangenetiker Carsten Pusch, der das Eismann-Genom mitentschlüsselte. "Mit der Gesamt-DNA können wir nun darüber spekulieren, woher er kam, wo seine Nachfahren heute leben und woran er gestorben wäre, wäre er nicht ermordet worden."

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