Dankbarkeit und demütigende Rituale

Dankbarkeit und demütigende Rituale
Dr. Barbara Helige, Leiterin der Wilhelminenberg-Kommission, im Interview mit dem KURIER

KURIER: Psychoterror, Schläge, Serienvergewaltigungen... die Vorwürfe der beiden Schwestern, die mit ihrem KURIER-Interview den Heimskandal losgetreten haben, sind schwerwiegend. Wurden sie bisher bestätigt bzw. widerlegt?

Barbara Helige: Die Kommission arbeitet an der Aufklärung des Sachverhalts seit Anfang Jänner. Es wäre unseriös, Zwischenergebnisse zu veröffentlichen. Wir sind mittendrin in den Interviews und im Studium der Akten. Es kann sich die Sicht der Dinge jederzeit ändern.

Sie suchen nach wie vor weitere Zeitzeugen.

Wir haben noch mit vielen Beteiligten zu sprechen. Jeder kann uns wichtige Mitteilungen machen. Jedes Interview, jede Quelle kann wesentlich zur Aufklärung beitragen. Details, die erst undramatisch wirken, können im Zusammenhang mit Akten oder einer anderen Aussage ein interessantes, neues Bild ergeben. Ich bin jedem dankbar, der seinen Teil der Erinnerung preisgibt.

Die Stadt Wien hat Ihnen freie Hand und Zugang zu allen Akten zugesichert.

Wir sind für die Stadt ein Gesprächspartner auf Augenhöhe. Viele Akten haben wir schon durchstudiert. Sehr oft gibt es die Möglichkeit, dann weitere Akten zu suchen. Die MA11 (Wiener Jugendamt, Anm.) unterstützt uns, oder auch der Präsident des Straflandesgerichts.

Ehemalige Heimkinder beklagen, dass ihre Heimakten nicht vollständig sind.

Es ist teilweise vorgesehen und richtig, dass Akten nach einer gewissen Zeit vernichtet werden. Es wurden aber auch Akten – vermutlich aus Personalnot – nicht vernichtet. Die gilt es zu finden und zu sichten. Ob Akten unvollständig sind, ist für uns nicht immer erkennbar. Daran sieht man, wie wichtig die Zusammenarbeit mit Heimkindern ist. Sie können uns sagen, was in den Akten nicht vorkommt, zum Beispiel ein Spitalsaufenthalt. Dem können wir dann nachgehen. Was in den Akten verschwiegen wird, müssen wir von den Menschen erfahren.

Gibt es noch Probleme bei der Aufarbeitung?

Das Hauptproblem ist, dass es keine Kinderlisten gibt, keinen vollständigen Überblick, wer zwischen 1948 und 1977 Heimkind am Wilhelminenberg war.

Erst vor Kurzem haben Ihre Mitarbeiter neue Akten gefunden ...

Wir haben einen Keller nach Akten durchsucht und 200 Aktenbündel gefunden. Jetzt muss gesichtet werden, was da drinsteht und ob es Zusammenhänge mit dem Wilhelminenberg gibt.

Hat sich durch den Wiener Heimskandal etwas verändert?

Allgemein habe ich den Eindruck, dass das Bewusstsein für die Übergriffe erst durch die Öffentlichkeit entstanden ist, dadurch dass die Skandale so offenbar wurden. Wenn Erzieher den Kindern vermittelt haben „So g’hört’s“, dann haben das die Kinder auch geglaubt. Wenn man das verdrängt und nie mit jemandem darüber spricht, erfährt man vielleicht erst jetzt, dass es einem schlecht gegangen ist.

Ist Ihnen persönlich etwas besonders ins Auge gestochen?

Vor allem auch alltägliche Repressionen, wie das Essen von Erbrochenem, dürften sehr demütigende Rituale gewesen sein. Jetzt zu erleben, dass es nicht hätte sein dürfen, ist für viele Heimkinder sehr wichtig. Die Kinder sind am Wilhelminenberg sicher traumatisiert worden, keine Frage.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Betroffenen, die oft erst nach Jahrzehnten ihr Schweigen über das Leben in den Kinderheimen brechen?

Das sind Leute, die sehr ehrlich und engagiert mit uns reden und nicht in Bausch und Bogen alles für schlecht oder alles für gut erklären. Sie versuchen, sich möglichst genau zu erinnern. Es ist bemerkenswert, wie viel ernsthaftes Bemühen dabei ist.

Wird die Arbeit der Kommission wirklich binnen eines Jahres beendet sein?

Ja. Wir haben einen Zeitplan. Es ist wichtig für die Gesellschaft, dass sich die Aufarbeitung nicht über Jahre hinzieht. Irgendwann sollte es möglich sein, das abzuschließen. Der End­bericht ist für Jänner 2013 vorgesehen.

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