Rollenspiel: 24 Stunden auf der Flucht
Wie spät es wohl sein mag, zehn Uhr abends oder vier Uhr früh? Ich weiß es nicht. Mein Zeitgefühl ist weg, die Zehen fühlen sich taub an, der Magen leer. Ich rolle mich am Boden zusammen, will einfach nur schlafen. Dann geht das Licht an. Sirenengeheul. Wir müssen aus dem Gebäude, einem jemenitischen Flüchtlingscamp, hinaus. Die Flucht geht weiter.
Raus in die Nacht, rein in den Wald. Den gibt es so dicht im Jemen zwar nicht, aber wir sind auch in der Dübener Heide, in Sachsen-Anhalt, im Osten Deutschlands. Und im echten Leben keine somalischen Flüchtlinge, sondern 20 Menschen aus Österreich, Deutschland, Belgien, Italien und Irland, zwischen 18 und 30 Jahren. Einige studieren, andere arbeiten im Sozialbereich. Für ein Rollenspiel des Deutschen Roten Kreuzes "Youth on the Run" nehmen wir eine neue Identität an. 24 Stunden bin ich keine Reporterin, sondern Amir, 17 Jahre, und flüchte vor dem Bürgerkrieg in Somalia.
Makaber?
Die Idee, junge Menschen auf die Flucht zu schicken, stammt vom dänischen Pädagogen und Psychologen Steen Cnops Rasmussen. Das Spiel soll Vorurteile abbauen und für die humanitäre Lage Geflohener sensibilisieren. Ob dies gelingt, indem wir ihr Schicksal simulieren? Manche finden das makaber, andere mutig.
Unser Gepäck kommt jedenfalls weg. Die somalischen Soldaten filzen alle Rucksäcke. Handy und Wasserflasche nehmen sie mit, Schlafsack und Socken lassen sie drinnen. Mitspielerin Ines, 21, schaut mich entsetzt an: "Sie haben mir alles genommen." Auch unsere Dokumente sind weg. Wir müssen uns im Gebäude nebenan neue besorgen.
Beim Behördenwahnsinn haben schon einige abgebrochen, erklärt Spielleiter Marcel Stuhlmacher vom Landesverband des DRK Sachsen-Anhalt am nächsten Tag. Bewusst werden Szenen realitätsnah, aber überspitzt dargestellt: "Wir wollen Emotionen erzeugen, was aus den Menschen herausholen."
Abhängig
Angst macht sich breit. Schüsse fallen. Somalische Rebellen greifen die Behörden an. Wir nützen das Chaos, laufen aus dem Gebäude. Zwei Männer winken uns zu sich. Wir folgen ihnen auf matschigen Wegen durch den Forst. An jeder Weggabelung bleiben sie stehen, verlangen Geld. Langsam bekomme ich Durst. Der Schlepper verkauft uns zwei Trinkflaschen – das ist zu wenig, stellt Mitspielerin Ines wütend fest. Die Familie ist uneins, wie viel Geld soll sie ihm noch geben? Müssen wir auch Essen kaufen? Wir bekommen keine Antworten. Der Marsch geht weiter.
Der Schlepper deutet jetzt an, leise zu sein, wir nähern uns einer Grenze. Plötzlich laufen Mitglieder meiner Familie einfach drauf los. Soldaten springen aus dem Gebüsch, aber niemand hält die Flüchtlinge auf. Denn physischer Kontakt und Waffen sind im Spiel verboten. Nach einigen Metern bleiben mein Großvater, Onkel und Schwester stehen. Hier offenbart sich der Spielcharakter. "Wohin sollen wir eigentlich laufen? Wir sind ja nicht auf der Flucht. Im echten Leben hätten sie uns erschossen", stellt Mitspielerin Orla fest.
Fremdbestimmt
Die Familie wächst zusammen. Auch als wir in der Dämmerung das "jemenitischen Flüchtlingscamp" erreichen. Wir teilen die Decke und legen uns eng aneinander. Auf die Toilette dürfen wir nur in Begleitung der Camp-Helfer. Noch nie habe ich mich so fremdbestimmt gefühlt.
Das ist auch das Ziel, erzählen uns die Instruktoren in der Nachbesprechung: Grenzen erfahren, unkomfortable Situationen erleben und der Willkür anderer ausgesetzt sein.
Das Spiel abbrechen wäre jetzt einfach und bequem, ein verlockender Gedanke. Er schwirrt mir auch nachher noch einmal durch den Kopf, als wir uns in einem Pferdestall verstecken und ich einfach nur meine Ruhe haben will. "Emergency Break" lautet das Wort, um auszusteigen - ich lasse es dennoch bleiben.
Auch meine Mitspieler verzichten darauf. Krankenschwester Jill hat die Aussicht, jederzeit austeigen zu können, geholfen durchzuhalten. Aber es hat sie auch etwas davon abgehalten, sich ganz auf die Rolle einzulassen, erzählt sie später. "Am Ende weißt du, dass du nach 24 Stunden wieder in dein normales Leben zurückkehrst."
Hintergrund: Livenrollenspiele als pädagogische Methode
Ursprung & Zweck: Erster Weltkrieg, Ukraine-Konflikt oder Schlacht von Verdun – an der Østerskov-Efterskole in Dänemark lernen Schüler mittels Liverollenspielen nicht nur Inhalte, sondern soziale Fähigkeiten, Teamplay oder sich in neue Situationen einzufinden. In Skandinavien hat diese Methode Tradition – auch im Umgang mit Vorurteilen und Rassismus.
Pädagoge und Psychologe, Steen Cnops Rasmussen, entwickelte Mitte der 1990er ein Konzept, als er bei dänischen Jugendlichen steigende Intoleranz gegenüber Migranten beobachtete. Es soll junge Menschen für die Situation Geflohener und deren Rechte sensibilisieren. Sein Rollenspiel "Young Refugees", das auch Reflexion beinhaltet, wurde für das Rote Kreuz in mehreren Ländern adaptiert. In Österreich sind Termine 2018 geplant. Infos unter: http://www.get-social.at/yotr
Kommentare