Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

1970 reiste Willy Brandt zum ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen nach Erfurt und wurde mit „Willy Willy“-Rufen empfangen: Blick aus seinem Hotelzimmer.
Der SPD-Kanzler spaltete Deutschland, aber auch seine Partei. Im Dezember wäre sein 100. Geburtstag

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – das Zitat zum Fall der Berliner Mauer wird vielen zugeschrieben, aber es „gehört“ Willy Brandt. Es ist sein vermutlich berühmtester Satz, gesprochen in einem Interview am 10. November 1989, also lange nach seiner vergleichsweise kurzen Zeit als deutscher Kanzler. Er wird zitiert in Dokumentationen, TV-Diskussionen, Erinnerungen, die seit Wochen die deutschen Medien fluten anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages der Ikone der deutschen Sozialdemokratie – auch wenn sich der erst am 18. Dezember jährt.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der vor 21 Jahren verstorbene Brandt stets gerade mit diesem Satz in Verbindung gebracht wird. Denn um seine Entspannungspolitik gegenüber dem damaligen Osteuropa und der DDR zu Beginn der Siebzigerjahre, für die er den Friedensnobelpreis erhielt, tobte der wildeste Streit zwischen Konservativen und Sozialdemokraten in Deutschland: Erstere warfen Brandt vor, mit dieser Entspannung eine Anerkennung und Stabilisierung der Unrechtsregime des Ostblocks zu betreiben; Letztere verstanden Brandts Ostpolitik als Weg zum Zusammenbruch des Ostblocks – der knapp zwei Jahrzehnte später Wirklichkeit wurde.

Umbrüche

Dieser Streit ist Ausdruck einer Polarisierung, wie sie kaum je ein deutscher Nachkriegspolitiker erleben musste: Willy Brandt, der „Kanzler der Herzen“, wie der Spiegel in seiner aktuellen Coverstory titelt, hat in der Tat bewegt und gerührt und begeistert und gleichzeitig polarisiert und fast biblischen Hass auf sich gezogen. Das ist nur aus der Zeit heraus verständlich: Die gesellschaftlichen Umbrüche Ende der Sechzigerjahre bereiteten nach bürgerlichen Regierungen und Großer Koalition den Weg für die Machtübernahme durch die Linken: In Deutschland mit dem Wahlsieg Willy Brandts 1969, in Österreich mit dem Sieg Bruno Kreiskys 1970 (beide brachen mit der Tradition der Großen Koalition und bildeten Regierungen zunächst mit der FDP bzw. der FPÖ). Die an die Linke verlorene Macht befeuerte das ausgeprägte Lagerdenken links-rechts noch einmal.

Willy Brandt wurde 1913 in Lübeck als Herbert Ernst Karl Frahm geboren, und selbst seine uneheliche Herkunft sollte seinem politischen Gegner später als rhetorische Waffe dienen, so wie seine Zeit im Exil. Brandt trat 1930 der SPD und danach der linkssozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands bei, die nach der Machtergreifung Hitlers 1933 verboten wurde. Er reiste nach Norwegen, um dort Widerstand zu organisieren. 1940 geriet er kurz und unerkannt in deutsche Gefangenschaft, flüchtete nach Schweden, wo er auch Bruno Kreisky für eine lebenslange Freundschaft kennenlernte, und erhielt die norwegische Staatsbürgerschaft.

Unter seinem Decknamen Willy Brandt kehrte er nach dem Krieg nach Deutschland zurück – dass er um die deutsche Staatsbürgerschaft erst wieder ansuchen musste, hat ihn schwer getroffen, erzählte jüngst sein Weggefährte Egon Bahr. Präsident des Abgeordnetenhauses, langjähriger Bürgermeister von Berlin (auch während des Mauerbaus) und Außenminister unter CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger waren seine politischen Stationen bis zum Wahlsieg 1969. Und der berühmte Kniefall am Mahnmal des Getto-Aufstandes in Warschau leitete die erwähnte „Neue Ostpolitik“, die „Politik der kleinen Schritte“ ein.

SPD-WiderstandWiderstand blies Brandt freilich nicht nur vom politischen Gegner, sondern auch aus den eigenen Reihen entgegen. Als der engste Brandt-Mitarbeiter, Günter Guillaume, 1974 als DDR-Spion enttarnt wurde, war es Brandts Fraktionschef Herbert Wehner, der aufgrund zahlreicher Gerüchte über Frauengeschichten und Alkoholprobleme des zeitweise depressiven Willy Brandt dessen Erpressbarkeit fürchtete und nicht mehr an seine Wiederwahl glaubte. Brandt trat zurück, Helmut Schmidt, ein weiterer innerparteilicher Rivale, folgte ihm nach nur viereinhalbjähriger Kanzlerschaft nach. Am Ikonen-Status für die SPD hat das nichts geändert.

Das Leben des Willy Brandt

Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

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Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

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Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

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Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

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Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

Warhol Porträt von Willy Brandt
Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

GERMANY LITERATURE
Willy Brandt: Geliebt, gehasst und ewig präsent

Roses are placed at the grave stone of former Germ

Es ist die Erinnerung an einen „sehr komplexen Menschen, mit vielen Schichten“ und an eine „sehr intensive, enge Zusammenarbeit“, die Bundespräsident Heinz Fischer ganz persönlich mit Willy Brandt verbindet. In den späten Achtzigerjahren saß er in jenem Team, mit dem der gerade abgetretene SPD-Vorsitzende Brandt an einem neuen Programm für die Sozialistische Internationale (SI) arbeiten sollte. Dort erlebte Fischer, damals SPÖ-Klubobmann, Brandts Vorstellung von „einem neuen demokratischen Sozialismus. Ihm ging es um eine weltweite Bewegung, im Mittelpunkt standen Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit und das Ziel, jedem Menschen eine Möglichkeit zur Entfaltung zu geben.“

Natürlich knüpfen sich viele Erinnerungen des Bundespräsidenten an die längst legendäre Achse der europäischen Sozialdemokratie: Willy Brandt, Olaf Palme und Bruno Kreisky: „Allein die Tatsache, dass drei so faszinierende Persönlichkeiten gleichzeitig auf der europäischen Bühne agierten, macht dieses Trio so außergewöhnlich. Das hat natürlich eine nachhaltige Wirkung auf die europäische Politik gehabt.“

Die drei hätten „ein ganz neues Verständnis von Demokratie“ etabliert, „aber auch von internationaler Zusammenarbeit. Da gab es eine tiefe Skepsis gegenüber militärischer Konfliktlösung. Die Friedenspolitik hat so einen viel größeren Stellenwert bekommen, aber auch die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern. Das alles seien Einflüsse, die weit über Europa hinausreichten.

Brandt selbst bleibt für Fischer auch immer mit seiner neuen Ostpolitik verbunden. Der Deutsche sei einer der „Motoren des Umwandlungsprozesses in Europa gewesen, gemeinsam mit Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. Der Sozialdemokrat habe frühzeitig erkannt, welchen Weg Europa einschlagen müsse.

Doch auch in Fischers Erinnerungen zeigt sich Brandt keineswegs als einfacher, geradliniger Politiker: „Er hat ja auch keineswegs eine ganz lupenreine sozialdemokratische Biografie, ist ihr ja vor allem als junger Mann sehr kritisch gegenübergetreten.“

Brandt, betont Fischer auch seine ganz persönliche Sympathie für den Deutschen, „sei eben ein Mensch gewesen, der niemals schablonenhaft gehandelt hat“. Gerade in der Beziehung mit dem ebenfalls schwierigen Kreisky habe das die interessantesten Auswirkungen gehabt: „Wenn ich heute Brandt einen schwierigen Menschen nenne, dann meine ich das zutiefst positiv. Denn zu dieser faszinierenden Persönlichkeit gehörte das Schwierige dazu.“

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