Separatisten am Vormarsch

Separatisten am Vormarsch
Ein Wahlsieg der Nationalisten in Katalonien ist mehr als wahrscheinlich. Auch andere Regionen in Europa streben nach mehr Unabhängigkeit. Ein Überblick.

Am Sonntag wählt Katalonien ein neues Regionalparlament - und entscheidet damit auch welchen Weg es in Zukunft einschlagen möchte. Weiterhin eine autonome Region und Teil der Nation Spanien? Oder doch in Richtung Volksabstimmung und Unabhängigkeit?

Nicht nur in Katalonien, auch in Flandern, Schottland oder im Baskenland werden separatistische Bewegungen immer stärker: Das heterogene Gebilde Europa beginnt langsam zu bröckeln. Die Staatenlenker, die von einem Euro-Krisengipfel zum nächsten eilen, scheinen überfordert, dem neuen europäischen Nationalismus entgegenzusteuern. Aber wo liegen die Ursachen für diesen Nationalismus begraben? Und was sagen eigentlich die Menschen in den betroffenen Ländern dazu? Der KURIER hat dazu Bürger und Experten aus Katalonien, Belgien, Schottland und dem Baskenland befragt und die Lage in den verschiedenen Regionen analysiert.

Katalonien: Abspaltung keine Utopie mehr

68 Sitze im Regionalparlament braucht Artur Mas nach der nächsten Wahl. Dann hätte der katalanische Ministerpräsident die absolute Mehrheit in der Regionalregierung. Dann würde er 2014 über die Abspaltung der Region von Spanien abstimmen lassen.

„Die Unabhängigkeit ist das zentrale Thema des Wahlkampfs. Die Menschen hier reden fast über nichts anderes. Dabei ist nicht einmal klar, wie Mas das anstellen will, denn nur die spanische Zentralregierung in Madrid kann Volksabstimmungen durchführen. Das katalanische Referendum wäre damit illegal“, erklärt Juan Carlos González dem KURIER. Der junge Universitätsassistent für Physik lebt in Barcelona, der Hauptstadt von Katalonien. Einen gewissen Nationalstolz hat er immer schon bemerkt, doch seit den Massenprotesten im September konkretisieren sich die Unabhängigkeitsbestrebungen.

Gescheiterter Fiskalpakt

Dabei war Artur Mas nie ein radikaler Nationalist. Ende Oktober rief er dennoch einer jubelnden Masse zu: „Wir wollen ein neuer Staat in Europa werden“. Tausende waren damals gekommen, um den offiziellen Wahlkampfauftakt für die vorgezogenen Regionalwahlen am 25. November zu feiern.

Auslöser dieser Radikalisierung waren die im Sommer gescheiterten Verhandlungen mit der Zentralregierung über einen Fiskalpakt. Weniger Steuern -  das wollte Mas für das wirtschaftsstarke, aber von der Krise mitgenommene Katalonien. Premier Mariano Rajoy erteilte diesen Wünschen ein deutliches Nein. Daraufhin schlug Artur Mas eine härtere Gangart ein: Gestärkt durch die Proteste von 1,5 Millionen Katalanen im September rief er zu Neuwahlen auf, sowie zu einer Volksabstimmung, falls seine Partei Convergència i Unió mit absoluter Mehrheit gewinnen würde.

Mas hat gute Chancen. In den jüngsten Umfragen befürwortete fast die Hälfte der 7,2 Millionen Katalanen ein unabhängiges Katalonien; viele hoffen dadurch schneller aus der Krise zu kommen. Das autonome Bundesland kämpft mit einem Wirtschaftsabschwung von 1,1 Prozent pro Jahr, die Arbeitslosenrate liegt bei 23 Prozent. Die Verschuldung der Region ist die höchste in ganz Spanien. Mas spricht der Zentralregierung die Verantwortung für die miese Lage zu. Und Regierungschef Rajoy machte die Lage mit einem Interview einen Tag vor den Massenproteste nicht gerade besser: Da bezeichnete er die Bestrebungen in Barcelona als Kauderwelsch und Durcheinander. Das empörte auch die nicht so radikalen Katalanen. „Die meisten Menschen hier sehen sich nicht als Katalanen ODER Spanier, sondern als beides. Aber sie sind auch der vielen Vorschriften aus Madrid müde. Rajoys Interview-Aussagen sahen viele als Aufforderung auf die Straße zu gehen und zu protestieren“, erklärt Gónzalez.

"Katalonien ist kein Arm, den man einfach amputieren kann"

Justizminister Alberto Ruiz-Gallardón stellte in der Tageszeitung ABC die schwerwiegenden Folgen einer Abspaltung klar: „Die Menschen reden über Katalonien als wäre es ein Arm, den man einfach amputieren könnte und der Körper würde überleben. Dabei kann Spanien nicht ohne Katalonien. Eine Unabhängigkeit Kataloniens würde damit auch das Ende des Nationalstaats Spanien bedeuten“. Und wäre auch nur der erste Dominostein: Folgen könnten die seit Jahrhunderten um Unabhängigkeit kämpfenden Basken (siehe weiter unten). Die spanische Wirtschaft würde um 25 Prozent schrumpfen.

EU-Gegenwind

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat solchen Spekulationen eine klare Absage erteilt. Am Rande des Iberoamerikanischen Gipfeltreffens vergangenen Samstag stellte er klar, dass eine Region, die sich von einem EU-Mitgliedsstaat trennt, automatisch aufhören würde, Teil der Europäischen Union zu sein. Somit würden alle Katalanen ihren Status als EU-Bürger verlieren. Unabhängigkeit ohne EU, das befürworten laut einer Umfrage der Tageszeitung El País aber nur 37 Prozent der Katalanen.

Seit 1962 teilt eine unsichtbare Grenze das Königreich Belgien in zwei Hälften: Im Norden das belgisch-niederländischsprachige Flandern, im Süden die frankophone Wallonie. Der Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen schwelt bereits seit 1830, als sich Belgien in einer blutigen Revolution die Unabhängigkeit von den Niederlanden erkämpfte.

In den vergangenen Jahren ist der Graben zwischen den beiden Landesteilen wieder größer geworden. Das reichere Flandern, in dem drei von fünf Belgiern leben, eilt der Wallonie seit Jahren wirtschaftlich davon. Viele Flamen ärgern sich über die teuren Transferzahlungen in den armen Süden – und fordern eine stärkere Autonomie, wenn nicht gar eine Abspaltung.

Unrühmlicher Weltrekord

Besonders deutliches Beispiel für die politische Lähmung im Land war die Regierungsbildung nach der letzten Parlamentswahl im Juni 2010: Die Koalitionsverhandlungen dauerten fast eineinhalb Jahre – ein Weltrekord. Am Ende der Regierungsbildung präsentierte der neue frankophone sozialistische Premier Elio di Rupo eine bunte Allianz aus sechs Koalitionsparteien aus beiden Landesteilen.

Die in Salzburg lebende Belgierin Evelyn Laureyns beschreibt die verfahrene Situation in ihrem Land gegenüber dem KURIER: „Die Lage ist extrem angespannt. Es scheint, als ob sich die Politiker einander nicht mehr riechen, hören und sehen können“.

"Sollen nur fette Milch liefern"

Schuld daran ist auch ein gewisser Bart de Wever. Der Populist und charismatische Anführer der Separatistenpartei Neu-Flämische Allianz (N-VA) hat seine Partei innerhalb weniger Jahre von einer Minderheitenpartei zur stärksten Kraft in Flandern gemacht. Mit markigen Parolen wie "Die Flamen sind es leid, wie Kühe behandelt zu werden, die nur dazu gut sind, fette Milch zu liefern" spricht er vielen Flamen aus der Seele.

Bei den Kommunalwahlen Mitte Oktober setzte De Wever seinen Siegeszug fort – und erteilte der Regierung in Brüssel einen neuerlichen Schuss vor den Bug. In der Großstadt Antwerpen kamen die Nationalisten auf fast 38 Prozent der Stimmen, de Wever übernahm gleich selbst das Bürgermeisteramt. Noch in der Wahlnacht forderte De Wever Premier Di Rupo auf, Belgien in eine Konföderation zu verwandeln und Flandern somit mehr Autonomie zu verleihen. Im französischsprachigen Süden beobachtet man den Siegeszug der flämischen Nationalisten mit großer Sorge. De Wever sei ein Demagoge und Brandstifter, warnen politische Mitbewerber. De Wever ist jedoch kein Rechtspopulist à la Strache, Wilders & Co: Der studierte Historiker gibt sich im Ton oft moderat und grenzt sich von den Krawallmachern des rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Vlaams Belang von Filip De Winter deutlich ab.

Dass er einem vereinten Belgien tatsächlich den Todesstoß versetzt, glaubt Evelyn Laureyns allerdings nicht: „Ich glaube nicht, dass sich Flandern abspalten wird. Die Belgier waren schon immer Meister in der Suche nach einem einzigartigen Kompromiss." Flandern und Wallonie seien ein bisschen wie ein altes Ehepaar, das nicht mit-, aber auch nicht ohne einander leben kann, erklärt die Wahl-Österreicherin. Einer der Gründe, warum sich das zerstrittene Pärchen nicht trennen kann, ist die offiziell zweisprachige Hauptstadt Brüssel, sagt Laureyns: „Was passiert dann mit dem gemeinsamen Konto dort?“

Angst vor der Blamage

Der Graben zwischen dem Norden und Süden sei bis auf die Sprache im Alltag gar nicht so groß, sagt die Belgierin:  „Tag für Tag bekommen wir von den Politikern eingeredet, wie zerstritten die Flamen und Wallonen sind. Leider sind es oft nur die Politiker, die total zerstritten und zu feige sind.“ Über eine Volkabstimmung zu einer Spaltung Belgiens werde schon seit Jahren geredet – passiert sei jedoch bis jetzt nichts. „Man könnte fast glauben, dass die Politiker Angst davor haben, sich zu blamieren, wenn sich die Bevölkerung für ein gemeinsames Belgien entscheiden sollte.“

Ob Premier di Rupo das Land bis zur nächsten Parlamentswahl 2014 wieder einen kann? Evelyn Laureyns ist da skeptisch. "Die Regierung hat in den letzten Wochen massiv an Vertrauen verloren". Grund dafür ist ein neuerliches Sparpaket, das die Regierung dieser Tage vorgelegt hat. Dessen Inhalt stößt vielen Belgiern sauer auf: Die Staatsausgaben sollen 2013 um knapp 1,4 Milliarden Euro sinken, zu diesem Zweck werden Sozialausgaben gekürzt und Steuern erhöht. Unter anderem werden Lebensversicherungen, Zigaretten und Wein teurer, zudem sollen die Gehälter in den nächsten Jahren langsamer steigen. „Wenn sich Di Rupo in den nächsten Jahren nicht den wirklich dringenden Problemen Belgiens - Job-Krise, Pensionen, Gesundheitsreform, Migration – annimmt, wird es 2014 schlecht für ihn aussehen“, sagt Laureyns.

De Wevers Nationalisten bleiben bis dahin in Lauerstellung.

Alex Salmond hat geschafft, was in mehr als 300 Jahren davor keinem anderen schottischen Landesoberhaupt gelungen war: 2014 dürfen die Schotten über ihre Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abstimmen - mit dem offiziellen Sanktus von London und ohne einen blutigen Aufstand zu führen wie einst der legendäre Freiheitskämpfer William Wallace.

Edinburgh, ohnehin bereits mit relativ viel Autonomie ausgestattet, will vor allem wirtschaftlich unabhängiger von London werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die reichhaltigen Erdölvorkommen in der Nordsee vor der schottischen Küste: Etwa ein Drittel des gesamten Erdöls Großbritanniens wird dort gefördert. Ein Teil der Einnahmen – je nach Rechenart mindestens sechs Milliarden Pfund (ca. 7,2 Milliarden Euro) – muss Edinburgh jedoch jedes Jahr nach London überweisen. Ein Umstand, den man nicht länger hinnehmen will – schottischer Geiz hin oder her. "Wir sind das einzige Land auf der Welt, das Öl hat und das trotzdem immer ärmer wird“, schimpfen viele Schotten. Die Zahl der Haushalte, die sich ihre Heizkosten nicht mehr leisten können, hat sich in den letzten Jahren sprunghaft erhöht.  

Recht auf Selbstbestimmung

Jüngsten Umfragen zufolge sprechen sich allerdings nur ein Drittel der rund fünf Millionen Schotten für eine Abspaltung von London aus. Auch Lauren Jane McKay, schottische Journalistin für die englischsprachige Monatszeitschrift The Vienna Review, glaubt eher nicht daran, dass Schottland ab 2014 unabhängig wird: „Viele junge Leute, auch die meisten meiner Freunde, wollen mit Ja stimmen. Die älteren allerdings sorgen sich, dass Schottland das finanziell nicht schaffen wird.“ Auch dass sich die Beziehungen zu London verschlechtern könnten, ist eine Befürchtung, sagt die Schottin.

„Es geht bei dieser Abstimmung aber nicht darum, dass wir die Engländer satt haben. Jedes Volk sollte ein Recht auf Selbstbestimmung haben, auch die Schotten.“ Obwohl sie gern mit Ja abstimmen würde, darf McKay nicht an dem Referendum in ihrer Heimat teilnehmen. Nur Personen mit Wohnsitz in Schottland, auch EU-Ausländer, dürfen bei dem Referendum mit Ja oder Nein abstimmen.

Vieles wird in den nächsten zwei Jahren vom Verhalten des britischen Premiers Cameron abhängen, der in Schottland alles andere als überwältigende Beliebtheit genießt. Seine Konservative Partei macht seit Jahren Stimmung für einen britischen EU-Austritt - die schottische Regierung um Alex Salmond hingegen ist klar proeuropäisch eingestellt. Sogar einer Einführung des Euro steht man in Edinburgh offen gegenüber.

Angespannte Lage am Arbeitsmarkt

Die sozialen Probleme zwischen den Orkney-Inseln im hohen Norden und dem Fluss Tweed an der Grenze zu England werden sich aber auch durch ein Referendum nicht lösen lassen. Die Lage am schottischen Arbeitsmarkt ist wie im gesamten Vereinigten Königreich angespannt. Allein im vergangenen Quartal haben erneut 7.000 Schotten ihren Job verloren. Die Arbeitslosenrate stieg wieder auf 8,1 Prozent und liegt damit über dem Wert von Großbritannien (7,8 Prozent).

Nur eine muss sich keine Sorgen machen, sollte sich Schottland 2014 tatsächlich abspalten: Die Queen. Premier Salmond hat hoch und heilig geschworen, den Staatenbund des Commonwealth nicht zu verlassen und die Königin weiterhin als Staatsoberhaupt zu führen.

Rot, weiß und grün sind die Farben der baskischen Nationalflagge. Rot wie die Fensterläden, Fachwerkbalken und Paprikaschoten die zum Trocknen in der Sonne liegen. Weiß wie die gekalkten Wände der Häuser. Und Grün wie die Hügel, die Obstbäume in den Vorgärten und die Eichenwälder. Es sind die Farben des schönsten Landes der Welt – so schwören zumindest die Basken.

Ein Land, das es offiziell gar nicht gibt. Teils ins Frankreich, teils in Spanien definieren sich die Basken nicht über Grenzen, sondern über ihre Sprache. Nur wer Euskara, Baskisch, spricht, gehört wirklich dazu. Ein eigener baskischer Staat hat nie existiert. Die Forderung nach mehr Autonomie besteht aber seit Jahrhunderten. Haben sich die spanischen Basken nach dem Tod Francos 1975 ein eigenes Parlament und eine Polizei erkämpft, fordern die Basken in Frankreich seit der französischen Revolution vergeblich mehr Rechte.

Doch in den vergangenen Monaten wurden die Rufe nach Unabhängigkeit in beiden Teilen immer lauter. In Frankreich hat vor einigen Wochen die größte pro-baskische Demonstration seit Jahren stattgefunden. Und in Spanien gewannen die Nationalisten die Regionalwahlen, die regierenden Sozialisten wurden abgestraft. Das neue separatistische Parteienbündnis EH Bildu ging außerdem als zweitstärkste Partei hervor.

Keine Überraschung, meint der in Bilbao lebende Historiker Baris Tugrul. „Die Baskenparteien distanzierten sich zuletzt stark von der ETA und ihrem Weg der Gewalt. Dadurch wurde ihre Botschaft viel glaubwürdiger und massentauglich“, erklärt er im Telefongespräch mit dem KURIER.

"Die ETA hat die Waffen niedergelegt, aber die Konsequenzen des Konflikts sind bis heute ungelöst."

Die terroristische Vereinigung ETA hatte im Oktober 2011 nach gut vier Jahrzehnten ihren bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Baskenland beendet. Bisher unternahm sie aber keine konkreten Schritte zur Entwaffnung und gab auch nicht ihre Auflösung bekannt. „Die ETA hat die Waffen niedergelegt, aber die Konsequenzen des Konflikts sind bis heute ungelöst. Es gibt rund 800 Opfer, deren Familien sich organisieren. Außerdem sind an die 600 Basken quer über das Land verteilt eingesperrt, oftmals viele hundert Kilometer von ihren Familien entfernt“, beschreibt der Historiker.

Jeder Vierte für Unabhängigkeit

Jeder vierte Baske sieht sich selbst als Separatist und würde eine Unabhängigkeit befürworten, besagt eine kürzlich veröffentlichte Umfrage. Die Mehrheit möchte aber weiterhin Teil Spaniens sein. Laut Experte Tugrul sei zu beachten, dass dieser Streit um die Unabhängigkeit auch ein Streit um die Identität ist: „Zentrale Fragen in diesem Konflikt sind: ‚Was ist die baskische Identität‘ und ‚Hat sie mehr Legitimität als eine baskisch-spanische?“.

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