Mein Amerika: Birgit Braunrath auf Reisen

Birgit Braunrath am Lake Tahoe, 1990.
Ich liebe Amerika. Ich hasse Amerika. Ich liebe Amerika. KURIER-Kolumnistin Birgit Braunrath ("Ein Beagle namens Daria") erzählt von drei Jahrzehnten USA-Reisen.

Im Süden fehlt mir New Mexico, im Norden Minnesota. Im Westen nichts mehr, da war ich überall. Dafür im Osten New Hampshire und West Virginia.

Ja, West Virginia liegt im Osten. Aber das ist bei weitem nicht das Seltsamste, das ich auf meinen Reisen durch fast 40 US-Bundesstaaten entdeckt habe. Auch nicht, dass es in Kalifornien – offensichtlich kurzsichtige – Männer gibt, die eine Frau an der Bar anbaggern, um ihr dann die Brille zu stehlen.

Oder dass einen um sechs Uhr früh zwei Busladungen Psalmen-grölender Nachwuchs-Christen auf einem gottverlassenen Campingplatz in den Badlands aus dem Schlaf reißen. Doppeldeckerbusse, wohlgemerkt.

Oder dass man an einer Tankstelle, irgendwo am verlängerten Rücken von Oregon, eine Pumpgun kaufen kann. Mit Munition und ohne Formalitäten.

Auf und Ab

Mein Amerika: Birgit Braunrath auf Reisen
Birgit Braunrath
Ich liebe Amerika. Ich hasse Amerika. Ich liebe Amerika. So einfach ist das. Ein ewiges Auf und Ab.

Ich war ganz unten. In den Höhlen des Wind Cave Parks von South Dakota und im Schutzbunker der Grand Canyon Caverns in Arizona. Ich war ganz oben. Sears Tower, World Trade Center, Empire State, Space Needle, sogar zwei Mal freiwillig auf dem Mountain Tower des Hot Springs Nationalparks in Arkansas. Ich habe in den USA mehr Museen, Footballstadien, Weingüter, Flughäfen, Bars, Berge, Strände und Campingplätze gesehen, als die meisten Amerikaner je zu Gesicht bekommen.

Silicon Rush und Ruinen

Ich kenne die Kathedralen des Silicon Rush in Santa Clara. Aber auch die Industrieruinen von Detroit. Beklemmende Bilder haben sich über die Jahrzehnte eingebrannt: Die gehäckselte Kleinstadt Mayflower nach dem Kurzbesuch eines Tornados. Die endlosen scheintoten Wälder der Cascades nach dem Ausbruch des Mount Saint Helens. Die Waldbrände im Yosemite, Yellowstone und Crater Lake Nationalpark. Die trauernden Ureinwohner in Wounded Knee. Die Obdachlosen vom Central Park.

Und auch im Schmerz ist er immer da, der Wunsch zurückzukommen. Eines Tages.

Mit 16 verbrachte ich neun Wochen in Pennsylvania, Delaware und Washington, D.C.

Die ersten vier Wochen bestanden aus purem Heimweh, die letzten fünf aus der schmerzlichen Vorahnung von Fernweh, das mich befallen würde, sobald ich wieder daheim wäre.

Und genau so kam es. Seit ich 16 war, ist ein Teil von mir immer dort. Sobald der Rest von mir diesem Teil nachreist und bei der Immigration Schlange steht, ist es wie Heimkommen: Man flucht über die Enge und die Engstirnigkeit und weiß doch, dass einem das Herz nirgendwo sonst so weit wird wie hier.

Mit 19 wurde ich Flugbegleiterin, um wenigstens ein- oder zwei Mal im Monat in New York sein zu können. Und im Urlaub flog ich nach Seattle, Salt Lake City oder San Francisco.

Inzwischen ist es einfacher geworden, den Atlantik zu überbrücken. Dank Internet kann ich heute den Borowitz-Report im New Yorker genauso schnell lesen, als lebte ich dort. Wenn ich Pike Place Market und Puget Sound sehen will, weil ich Heimweh nach Seattle habe, schalte ich "Grey’s Anatomy" ein, obwohl ich kein Blut sehen kann. Und wenn ich sentimental werde, krame ich in der alten Schachtel mit den Erinnerungen.

Elefant und Esel

In dieser Schachtel liegt eine vergilbte Polizei-Verwarnung wegen Schnellfahrens in Nebraska; ein silberner, grob gearbeiteter Ring vom Little Bighorn in Montana; ein Stück Granit von Stone Mountain in Georgia.

Und dazwischen zwei Nudeln. Eine hat die Form eines Elefanten, die andere die eines Esels. Sie sind inzwischen unbezahlbar, denn die Nudeln in Form der Symboltiere der beiden großen Parteien stammen aus der ersten politischen Macaroni-&-Cheese-Sonder-Edition, die der Nahrungsmittelkonzern Kraft anlässlich der Parteitage der Republikaner und Demokraten im Wahljahr 1996 herausgebracht hat.

Macaroni und Macarena

An die Convention der Demokraten von 1996 erinnern sich viele: Christopher Reeve hielt seine berühmte Rede ("If we can conquer outer space, we should be able to conquer inner space, too"). Hillary Clinton war am Zenit ihrer Popularität, weil sie endlich das tat, was man von einer First Lady erwartete: über Kinder, Küche und Kirche reden (die Standing Ovations vor ihrer legendären "It-Takes-A-Village"-Rede dauerten fünf Minuten). Vizepräsident Al Gore tanzte den Macarena wie kein Zweiter (ohne sich zu bewegen oder mit der Wimper zu zucken). Und im November wurde Bill Clinton wieder zum Präsidenten gewählt.

Mit 22 lernte ich einen Mann mit Flugangst kennen und kündigte bei der Airline. Seine Angst im Handgepäck, flogen wir nach Montana auf Hochzeitsreise und besichtigten im Glacier Nationalpark die kontinentale Wasserscheide – ein Omen, das mir erst zehn Jahre später, bei unserer Scheidung, schmerzlich bewusst wurde.

Mit 27 verlor ich eine der liebsten Wegbegleiterinnen meiner Kindheit und Jugend. Auch sie war inzwischen erwachsen und eine engagierte Juristin für Menschenrechtsfragen in Washington, D.C., geworden. Ihr Mörder war ein Freigänger, der nicht frei sein hätte dürfen. Versagen der Instanzen. Was ist ein Menschenleben wert? Ihre Universität, die Georgetown Law, vergibt ihr zu Ehren jährlich einen Preis an besonders engagierte Absolventen des jeweiligen Jahrgangs. Ich bin seither nie wieder in Washington gewesen.

Kommende Woche werde ich einige Zeit dort verbringen, ohne hinzufahren, nur via Bildschirm. Nach einer durchwachten Wahlnacht werde ich Kaffee kochen, den Kopf schütteln und – egal, was dabei herausgekommen ist – nicht anders können, als Amerika zu lieben und zu hassen und zu lieben.

Algiers Point und Alaska

Ich habe in diesem Land Menschen kennengelernt, die meinen Sohn "our other son" nennen – Gasteltern für nur ein Semester, die nie aufgehört haben, an ihn zu denken.

Manchmal träume ich von dem winzigen gelben Haus in Algiers Point, New Orleans, das ich nie kaufen werde und das ohne mich vielleicht immer leer steht.

Und eines Tages werde ich wieder nach Washington, D.C., reisen. Eines Tages.

Nur von Alaska halte ich mich fern. Das fehlt mir noch, so wie New Mexico oder West Virginia. Alaska ist mein großer Traum. Seit 25 Jahren sage ich im Scherz: "Wenn ich Alaska gesehen habe, kann ich in Ruhe sterben." Also warte ich sicherheitshalber noch ein bisschen.

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