Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Julia Timoschenko als bildliche Speerspitze der proeuropäischen Demonstranten in Kiew.
Moskau hatte den Vorwurf zuvor zurückgewiesen. Timoschenko befindet sich im Hungerstreik.

Russland hat uns vorgeschlagen, die Unterzeichnung zu verschieben und Verhandlungen aufzunehmen", das erklärte der ukrainische Premier Mikola Asarow am Dienstag. Damit steckt laut Kiew Russland hinter dem ukrainischen Abbruch der Vorbereitungen für ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Russland hatte zuvor den Vorwurf vonseiten der EU zurückgewiesen, massiven Druck auf Kiew ausgeübt zu haben.

Timoschenko im Hungerstreik

Die inhaftierte ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko ist indes aus Protest gegen die Außenpolitik ihres Landes in einen Hungerstreik getreten. Die Politikerin nehme in ihrem Krankenzimmer in Charkow bis auf weiteres keine Nahrung mehr zu sich, teilte ihr Anwalt Sergej Wlassenko am Montag in Kiew mit. Die Ex-Regierungschefin fordere von Präsident Viktor Janukowitsch die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der EU, sagte Wlassenko bei einer Kundgebung in der Hauptstadt. Das Abkommen sollte an diesem Freitag bei einem Gipfel zur EU-Ostpartnerschaft in Vilnius (Litauen) unterzeichnet werden. Die Ukraine hatte die Vorbereitungen dazu vergangene Woche jedoch überraschend auf Eis gelegt, kurz nachdem das ukrainische Parlament ein von der EU gefordertes Gesetze über die Ausreise der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko abgelehnt hatte.

Janukowitsch selbst war Montagabend um Beruhigung bemüht. Er sieht sein Land nach wie vor den europäischen Werten verpflichtet. Dies sei eine schwierige und von wirtschaftlichen Zwängen getriebene Entscheidung der Regierung gewesen, sagte der Präsident in einer TV-Ansprache. Zugleich betonte er, es gebe keine Alternative dazu, in der Ukraine eine "Gesellschaft nach europäischen Standards zu schaffen". Seine Politik auf diesem Weg sei immer konsequent gewesen, und sie bleibe es auch.

Am Dienstag hat auch Russland die EU-Kritik zurückgewiesen, der Ukraine eine europäische Zukunft zu verbauen. Die Vorwürfe, Moskau habe massiven Druck auf Kiew ausgeübt, seien "unangemessen", sagte der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Dmitri Peskow, am Dienstag der Agentur Interfax. Russland werde jede Entscheidung der Ukraine "anerkennen und begrüßen".

Lage eskaliert

In der Hauptstadt Kiew kam es am Montag zu schweren Zusammenstößen zwischen pro-europäischen Demonstranten und Polizisten. Die Demonstranten versuchten, den Regierungssitz zu blockieren, woraufhin die Beamten Gummiknüppel und Tränengas einsetzten, berichteten Augenzeugen.

Etwa tausend Menschen hatten sich in der Früh vor dem Regierungssitz versammelt, um gegen den Stopp des geplanten Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU zu protestieren. Sie wollen ihren Anführern zufolge ausharren, bis die Regierung ihre in der Vorwoche verkündete Kehrtwende wieder zurücknimmt.

Demos in Kiew:

Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

UKRAINE EU PROTESTS
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Pepper spray is released into the crowd as protes
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Protesters clash with riot police during a rally t
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

UKRAINE EU PROTESTS
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

UKRAINE EU PROTESTS
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

UKRAINE EU PROTESTS
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Riot police try to stop protesters during a rally
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Protestors clash with riot police during a rally t
Kiew: Russland stoppte EU-Annäherung

Protesters clash with riot police during a rally t

Demos seit Sonntag

Auch am Sonntag hatten Zehntausende in der Ukraine für eine Annäherung ihres Landes an die Europäische Union demonstriert - es war die größte Massenkundgebung von Regierungsgegnern seit der Orangen Revolution vor neun Jahren. Die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko rief ihre Anhänger in einem Brief auf, mit Protesten weiter Druck auf ihren prorussischen Rivalen auszuüben. Auch in Wien wurde dafür am Sonntag demonstriert: In der Wiener Innenstadt kamen nach Polizeiangaben 100 bis 150 Menschen zusammen. "Wir wollen Österreich, der EU und der Welt zeigen, dass die Ukraine ein europäischer Staat ist und die Zukunft der Ukraine nur in der EU liegen kann", betonte die Organisation "Ukrainer in Österreich" am Montag in einer Aussendung.

Russische Machtspiele?

Die EU wollte das historische Assoziierungsabkommen über eine engere Zusammenarbeit und freien Handel mit der Ex-Sowjetrepublik eigentlich am kommenden Freitag auf dem Gipfel zur Östlichen Partnerschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius unterschreiben. Die ukrainische Regierung hatte sich dann allerdings überraschend eine Pause verordnet, um mit Russland zu verhandeln.

Russland wirft der EU geopolitische Machtspiele vor und hatte der Ukraine mit Strafmaßnahmen gedroht, sollte sie das Abkommen unterzeichnen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bot Kremlchef Wladimir Putin danach Gespräche über die Ukraine an. Sie betonte auch, dass das Abkommen nicht gegen Russland gerichtet sei.

Klitschko: "Ukraine gehört zu Europa"

Zu dem proeuropäischen Marsch in Kiew am Sonntag kamen auch Anhänger des Oppositionspolitikers und Boxweltmeisters Vitali Klitschko. „Wir können zeigen, dass die Ukraine Europa ist. Wir werden Druck ausüben auf den Präsidenten, die Regierung, und wir werden alles tun, damit das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet wird“, sagte Klitschko. Die regierungskritische Popdiva Ruslana (40) hatte schon vorher auf ihrer Internetseite ihre Fans mobilisiert. „Wir müssen der Welt zeigen, dass die Ukraine nach Europa gehört, nicht nach Russland!“, teilte die Siegerin des Eurovision Song Contest von 2004 („Wild Dances“) mit. „Wenn Putin die Ukraine für sich gewinnt, haben wir alles verloren“, meinte sie.

Auch in vielen anderen Städten des riesigen Landes demonstrierten Tausende Menschen für eine EU-Integration, darunter in Odessa und in Lwiw (Lemberg).

Das vorbereitete 1.200 Seiten starke Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine besteht aus einer Präambel, sieben Kapiteln, 43 Anhängen und 3 Protokollen. Es ist nach Angaben der EU-Kommission das am weitesten reichende, das die Europäische Union bisher ausgehandelt hat.

Das Abkommen befasst sich nicht nur mit Wirtschafts- und Handelsbeziehungen und der Schaffung einer Freihandelszone, sondern auch mit der politischen Zusammenarbeit. Darin wird eine enge Kooperation in der Außenpolitik, in Justiz- und Grundrechtsfragen vereinbart.

Der Vertrag sieht eine ständige und schrittweise Anpassung von Vorschriften und Normen in der Ukraine an die Standards der EU vor. Das Spektrum reicht von Urheberrechten über Beschaffungsvorschriften und Wettbewerbsgesetze bis hin zu Vorschriften über den Finanzmarkt oder den Verkehr. Der Markt der EU wird fast vollständig für die Ukraine geöffnet - und umgekehrt. In verschiedenen Bereichen gibt es Übergangsfristen.

Sofern bestimmte rechtliche, organisatorische und politische Voraussetzungen erfüllt sind, sollen die Ukrainer auch ohne Visa in die EU reisen dürfen. Auch im Energiebereich ist eine enge Zusammenarbeit vorgesehen.

Die EU macht einen Hafturlaub der erkrankten Oppositionsführerin Julia Timoschenko zur Bedingung für ein weitreichendes Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Die Politikerin war 2004 Galionsfigur der pro-westlichen Orangenen Revolution in der Ex-Sowjetrepublik, ein Jahr später wurde sie Regierungschefin in Kiew.

Ein 2009 unterzeichnetes Gasabkommen mit Russland wurde der heute 52-Jährigen zum Verhängnis - sie sitzt seit 2011 eine international umstrittene siebenjährige Haftstrafe ab, weil sie ihrem Land aufgrund ungünstiger Vertragsbedingungen Schaden zugefügt haben soll.

3. März 2010: Timoschenko muss nach einem Misstrauensvotum des Parlaments in Kiew zurücktreten. Der Vorwurf: Amtsmissbrauch. Sie habe zum Nachteil der Ukraine ein Abkommen über russische Gaslieferungen geschlossen.

24. Juni 2011: In Kiew beginnt der Prozess, den die EU als politisch motiviert betrachtet. Im Gerichtssaal und auf der Straße kommt es zu Tumulten zwischen Gegnern und Unterstützern.

5. August: Timoschenko kommt in Untersuchungshaft.

11. Oktober: Trotz internationaler Proteste verurteilt ein ukrainisches Gericht Timoschenko zu sieben Jahren Straflager und umgerechnet 137 Millionen Euro Schadenersatz. Sie legt Berufung ein.

30. Dezember: Timoschenko kommt in ein Frauenlager in der Stadt Charkow, rund 450 Kilometer östlich von Kiew.

14./15. Februar 2012: Die Oppositionsführerin klagt über Rückenschmerzen und wird im Straflager von Spezialisten der Berliner Klinik Charite untersucht. Diagnose: Bandscheibenvorfall.

9. Mai: Die Ex-Regierungschefin kommt in eine Spezialklinik außerhalb des Straflagers und beendet nach etwa drei Wochen einen Hungerstreik.

21. Mai: Ein zweiter Strafprozess gegen Timoschenko wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Veruntreuung wird vertagt. Weitere Termine werden wegen Timoschenkos Krankheit immer wieder verschoben.

29. August: Das Oberste Gericht in Kiew lehnt Timoschenkos Berufung gegen das Urteil von Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs ab.

29. Oktober: Bei der Parlamentswahl in der Ukraine kann die Regierung ihre Macht behaupten. Aus Protest gegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl tritt Timoschenko erneut in einen gut zweiwöchigen Hungerstreik.

18. Jänner 2013: Weitere schwere Anschuldigungen der Justiz sorgen für Aufsehen: Timoschenko müsse sich auch wegen Mordes an einem Abgeordneten verantworten, den sie 1996 in Auftrag gegeben habe.

30. April: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg urteilt, die Ukraine habe Timoschenko willkürlich in Untersuchungshaft genommen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Timoschenko bleibt im Krankenhaus unter Bewachung.

21. November: Im ukrainischen Parlament scheitern mehrere Gesetzentwürfe, die Timoschenkos Behandlung in Deutschland erlauben würden. Das geplante Assoziierungsabkommen der Ex-Sowjetrepublik mit der EU ist deswegen stark gefährdet.

Kommentare