Tunesien: Neue Freiheit, neuer Zündstoff

Tunesien: Neue Freiheit, neuer Zündstoff
Wer auf der Straße mehr Kopftücher und Bärte sieht, sieht zugleich die neue Freiheit: Jeder darf sich zeigen, wie er will

Kopftücher und Miniröcke, lange Bärte und gegelte Haare, Lederjacken und High Heels – das Stadtbild einer typischen tunesischen Gemeinde war immer bunt. Vor allem in den urbanen Gebieten ist man stolz auf die Freiheit der Frau und auf die Trennung von Staat und Kirche – und das in einem Land, das zu 99 Prozent von Muslimen bewohnt wird.

„Ja, man sieht jetzt schon mehr Bärte und Kopftücher als früher“, sagt der Chauffeur aus Tunis. „Aber bitte glauben Sie in Europa nicht, dass hier alle zu Terroristen werden. Diese Menschen mussten sich in der Zeit von Ben Ali verstecken. Jetzt haben wir eine neue Freiheit. Jeder darf auf die Straße gehen, wie er will – auch strenggläubige Muslime!“

Diese neue Freiheit bringt aber auch neuen Zündstoff: Laizistisch eingestellte Tunesier fürchten die Macht der Islam-Partei Ennahdha, die bei den Wahlen im Oktober 40 Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Fundamentale Salafisten sind gegen religionskritische Inhalte im Fernsehen. Arbeitnehmer verlangen mehr Geld, Arbeitslose fordern endlich Jobs.

Das Land ist in einer heiklen Entwicklungsphase, die Gemüter sind angespannt. Viele Tunesier haben Angst, dass ihnen die neue Freiheit wieder abhanden kommt.

Schritt für Schritt

Tunesien: Neue Freiheit, neuer Zündstoff

„Die wahre Frucht der Revolution – und bis jetzt wahrscheinlich die einzige – ist die Freiheit“, sagt der 24-jährige Ghali Omri, der in Sidi Bouzid bei einem neu gegründeten lokalen Radiosender arbeitet. „Radio Karama“ (Radio Würde) heißt die Station, die von 6 bis 22 Uhr sendet. Vielleicht strahlt sie einmal ins ganze Land aus, aber das braucht Zeit und Geld. „Eine größere Antenne wäre toll, aber es muss alles Schritt für Schritt gehen“, sagt Omri, „so wie die Entwicklung des Landes. Das geht nicht von heute auf morgen.“

In Sidi Bouzid ist man besonders stolz auf den Sturz des Präsidenten. Hier, in einer armen Region im Herzen Tunesiens, hat der Arabische Frühling angefangen: Am 27. Dezember 2010, vor dem Hintergrund immer wiederkehrender kleinerer Aufstände, kam der 26-jährige Mohamed Bouazizi vor das Amtsgebäude der kleinen Stadt. Er war wieder einmal verhaftet worden, weil er illegal aus seinem Laufwagen Gemüse verkauft hatte. Voller Wut übergoss er sich mit Benzin, zündete sich an und starb wenige Tage später. Diese Tat wurde zum Funken, der den Aufstand entfachte. In Dutzenden Städten demonstrierten Menschen gegen die ungerechte Verteilung und die Perspektivenlosigkeit.

Am 14. Jänner 2011 waren Präsident Ben Ali und seine Schergen am Ende. Die Menschen durften sich plötzlich alles erhoffen: Freiheit, Arbeit, Gerechtigkeit, freie Religionsausübung, ein Leben mit mehr Chancen.

Und heute stehen sie wieder vor dem Gemeindeamt in Sidi Bouzid. Rund hundert Menschen verlangen von dem Polizisten, der das Tor bewacht, er solle aufsperren. Der neue Bürgermeister der 10.000-Seelen-Gemeinde ist seit vier Monaten im Amt. Und steht vor demselben Problem, das die Stadt schon vor einem Jahr beschäftigt hat: 40 Prozent Arbeitslose. Vor allem Frauen sind heute gekommen, um sich beim Bürgermeister eintragen zu lassen. „Wofür sind unsere Söhne auf die Straße gegangen, wenn jetzt alles so ist wie vorher?“, fragt eine Frau.

Die Wut kocht langsam wieder auf. Und die Sicherheitskräfte können nur wenig tun. Die Polizei hat seit den Unruhen Anfang 2011 kaum Macht. Wenn jemand verhaftet wird, kann es vorkommen, dass ihn sein Clan aus der Polizeistation befreit.

Aufräumen

Vielerorts können Menschen die Früchte der Revolution noch nicht erkennen. Vor allem die Ungebildeteren verstehen nicht, warum es nach einem Jahr noch immer keine Arbeitsplätze für sie gibt. „Es ist schwer, ihnen das zu erklären“, sagt ein Mann. „Niemand hat den Zauberstab, der jetzt Tausende Jobs schafft. So eine Entwicklung dauert Jahre – Jahrzehnte. Wir müssen jetzt geduldig und bescheiden sein.“

Hafedh Yousfi, der in der Region für das Komitee der nachhaltigen Entwicklung arbeitet, weiß: „Die Revolution ist noch nicht vorbei. Die wahre Revolution – das Aufräumen mit den alten Strukturen – beginnt erst jetzt.“

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