Türkei/Syrien: Im Würgegriff des Krieges

Der Imam ist geflohen aus Mürsitpinar, genau wie der Lehrer und viele andere. Sie wollten nicht mehr in einem türkischen Bauerndorf leben, das plötzlich an der Front eines Konfliktes mit der brutalsten Extremistengruppe des Jahrzehnts liegt. Nur ein paar Eisenbahnschienen und ein geschlossener Grenzübergang trennen Mürsitpinar von Kobane, der syrischen Stadt, die seit Wochen von der Dschihadisten-Miliz "Islamischer Staat" (IS) angegriffen wird.
Im Dorfladen hält Yusuf Cankaya die Stellung, umgeben von Regalen voller Shampoo und Waschmittel, die niemand mehr kauft. Die wenigen Geschäfte an der staubigen Straße zum Grenzübergang sind verriegelt.
Schule geschlossen
Eine Art Ausnahmezustand herrscht entlang des Grenzzauns. "Das Leben ist gelähmt", sagt ein Kurde in Mürsitpinar. Felder liegen brach, auf einem Militärgelände außerhalb des Dorfes sind rund drei Dutzend Panzer aufgefahren. In einer frisch ausgehobenen Stellung steht eine Panzerhaubitze, das Rohr zeigt Richtung Syrien. Im Dorf Tavsanli in der Nähe bejubeln türkische Kurden die Einschläge von Bomben der alliierten Luftangriffe auf IS-Stellungen. Auch in anderen Grenzdörfern sitzen Leute auf Hügeln und Dächern und schauen dem Krieg zu.
Cankaya schläft im Haus neben seinem Laden, manchmal auch im Auto außerhalb des Dorfes, wenn der Gefechtslärm von Kobane nachts ungemütlich nahe an die Grenze rückt. "Ich verkaufe so gut wie nichts mehr, aber selbst wenn das Geschäft gut ginge, würde es mir keinen Spaß mehr machen", sagt er. Seine besten Kunden sind jetzt junge Polizisten, die bei ihm Cola und Snacks kaufen. Warum er selbst in Mürsitpinar bleibt, weiß Cankaya auch nicht so genau. Er würde gerne den Flüchtlingen aus Kobane helfen, sagt er. Auf beiden Seiten der Grenze leben Kurden, viele haben Verwandte im jeweils anderen Land. Mürsitpinar und Kobane waren einmal ein und derselbe Ort und wurden durch die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg getrennt, sagt ein Kurde.
Flucht zu Verwandten
Vor allem diese Verbindungen sind es, die es der Türkei in den vergangenen zwei Wochen ermöglicht haben, eine der größten Fluchtwellen der jüngsten Zeit aufzufangen. Im Westen von Mürsitpinar hat das türkische Katastrophenschutzamt AFAD ein Registrierungszentrum für syrische Flüchtlinge eingerichtet, die seit dem Beginn der IS-Offensive gegen Kobane vor zwei Wochen in Massen über die Grenze geströmt sind. Mehr als 160.000 sind es nach Angaben von Türkei und UNO, und immer noch hält der Andrang an. Die meisten kommen bei Verwandten unter, die anderen schlafen in Zeltstädten, Moscheen oder anderen öffentlichen Gebäuden.
Ali Yavuzer ist einer der Fahrer, die die Syrer von der Grenze aus nach Suruc bringen. In normalen Zeiten ist er Bauer, aber seit zwei Wochen pendelt Yavuzer mit seinem Kleinlaster im Auftrag des Landratsamtes täglich von Suruc zwischen der Kreisstadt und dem Kontrollpunkt für die Flüchtlinge bei Mürsitpinar hin und her.
Rund 30 Flüchtlinge drängen sich auf der Ladefläche von Yavuzers Fahrzeug. Er schließt die Klappe an der Ladefläche und setzt sich ans Steuer. Mehr als ein Dutzend Mal fährt er jeden Tag auf der rund acht Kilometer langen Strecke hin und her. Abends drängen sich die Flüchtlinge auf dem Marktplatz von Suruc, wenn die Stadtverwaltung Essen austeilen lässt. Rund zwei Drittel der Bevölkerung aus Kobane und Umgebung sei bereits in die Türkei geflohen, sagt ein neu angekommener Flüchtling. Der Rest sitzt auf gepackten Koffern.
Yavuzer wird wohl noch eine Weile Flüchtlinge transportieren. Was aus Kobane wird? "Das weiß nur Gott", sagt er. Unterdessen steigt über Kobane der Rauch von neuen Granaten des IS auf.

Das Schicksal der Flüchtlinge aus Syrien bewegt die Österreicher. Viele wollen helfen. Der KURIER zeigt, wie und wo Ihre Unterstützung am wirkungsvollsten ist. Beteiligen Sie sich an der Aktion, helfen Sie den Menschen in Not aus Syrien. Wie das geht, erfahren Sie hier.
Kommentare