Kampfeslust und tiefe Trauer im Flüchtlingslager

Lager syrischer Flüchtlinge, Hatay
KURIER-Besuch in einem Lager für syrische Flüchtlinge – hart an der Grenze zum Kriegsgebiet.

Obwohl es hier in dem türkischen Flüchtlingslager, nur wenige Hundert Meter von der syrischen Grenze entfernt, sicher ist, hält es Mossab Aktar nie lange. „Alle 15 Tage gehe ich zurück in meine Heimat, um mit der Freien Syrischen Armee gegen (Machthaber) Assad zu kämpfen“, sagt der 28-Jährige, der aus Idlib stammt. Er hat Mutter und Großeltern verloren und wurde dank Visa-Freiheit zum Grenzgänger.

Kampfeslust und tiefe Trauer im Flüchtlingslager
Lager syrischer Flüchtlinge, Hatay
Nach den Einsätzen kehrt er gerne wieder in das Camp Boynuyogun zurück, wo seine frisch angetraute Ehefrau auf ihn wartet: „Ich habe hier geheiratet. Mein Sohn, der demnächst geboren werden soll, soll Erdogan heißen.“ Das ganz persönliche Dankeschön Aktars an den türkischen Premier für die „Gastfreundschaft“.

Modell-Camp

Die Türkei hat schon mehr als 400.000 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Die Hälfte schlägt sich auf eigene Faust durch (oft mithilfe von Verwandten). Knapp 200.000 sind in insgesamt 15 Camps untergebracht, wie hier in Boynuyogun, wo 2300 Menschen leben – ein Modell-Lager, durch das schon an die 180 internationale Delegationen durchgeschleust wurden.

Die Wege zwischen den Zelt-Zeilen sind betoniert. Hat eine Familie mehr als fünf Mitglieder, steht ihr ein zweites Zelt mit 14 Quadratmetern zur Verfügung. Es gibt Strom, einen Kinderspielplatz und eine Zelt-Moschee. Auf dem Gelände befindet sich auch ein eigener Supermarkt. „Vom Kleinkind bis zum Greis erhält jeder 80 Türkische Lira (34 Euro) pro Monat, um Lebensmittel kaufen zu können. Und dazu 16 Lira (6,8 Euro) für Waschmittel. Zigaretten muss sich jeder selbst finanzieren“, sagt Gouverneur Ali Aslantas vom Unter-Distrikt Altinözö.

Geboren im Lager

Kampfeslust und tiefe Trauer im Flüchtlingslager
Lager syrischer Flüchtlinge, Hatay
Etwas abgesetzt von den Unterkünften befindet sich die medizinische Station. Maysa Hijazi lässt gerade ihr Baby durchchecken. Ein Jahr ist die 29-Jährige schon hier, ihr jüngstes Kind, die eineinhalbmonatige Hanin, wurde in dieser Zeltstadt geboren. Und Hanin hat viele Leidensgenossinnen: An die 3000 Kinder erblickten fern ihrer Heimat in türkischen Lagern das Licht der Welt.

„In unserem Dorf nahe Idlib gab es nichts mehr zu essen und auch kein Wasser mehr. Als dann syrische Armeesoldaten unser Haus geplündert haben, mussten wir gehen“, sagt die Frau. Mit den damals sechs Kindern und ihrem Ehemann erreichte sie zu Fuß die sichere Türkei. Ob sie jemals wieder zurückkehren kann, weiß sie nicht. Wehmütig schaut sie aus dem Fenster auf den nahen Wasservorratsspeicher-Turm, der schon auf syrischem Territorium liegt. Maysa Hijazi beginnt zu weinen.

Gleich neben den Containern des „Krankentrakts“ befinden sich die Kindergarten- und Schul-Zelte. Die Buben und Mädchen, die ein Drittel der Lager-Bewohner ausmachen, werden drei Tage pro Woche in arabischer Sprache pädagogisch betreut, vier Tage in türkischer.

Kampfeslust und tiefe Trauer im Flüchtlingslager
600.000 Türkische Lira (255.000 Euro) lässt sich die Regierung in Ankara, die nie von Flüchtlingen, sondern von „Gästen“ spricht, dieses Modell-Camp pro Monat kosten. Fünf davon gibt es alleine in der Provinz Hatay, eines speziell für übergelaufene Offiziere der syrischen Armee und deren Familien. Insgesamt hat die Türkei bereits 600 Millionen US-Dollar für die Flüchtlingshilfe aufgebracht. Und es könnte noch viel, viel mehr werden. Denn jenseits der Grenzen harren weit mehr als 100.000 Syrer, die wegen der schweren Kämpfe ihre Dörfer verlassen mussten, unter katastrophalen Bedingungen aus.

Türkei ist sauer

Ankara beklagt zwar bei jeder Gelegenheit die mangelnde Unterstützung, vor allem der EU, ist aber nicht bereit, internationale NGOs zuzulassen. Ein EU-Repräsentant: „Um effektiv helfen zu können, brauchen wir diese aber.“

Und auch sonst ist nicht alles derart eitel Wonne, wie es die türkischen Behörden glauben machen wollen. Nicht nur in Hatay kam es zu massiven Spannungen mit der örtlichen Bevölkerung. Der Grund: Die mehrheitlich alawitisch geprägte Region kann mit der teils sehr strengen Religionspraxis der geflüchteten sunnitischen Syrer wenig anfangen – so dürfen vor allem alleinstehende Frauen, deren Ehemänner getötet wurden oder jenseits der Grenze kämpfen, ihre Zelte kaum verlassen. Andernorts hat die gewachsene Nachfrage nach Wohnraum durch wohlhabende syrische Flüchtlinge die Preise steigen lassen, sehr zum Ärger der Alteingesessenen. In der Provinz Sanliurfa wurden angeblich 130 Syrer nach Spannungen des Landes verwiesen.

Premier Erdogan bleibt aber bei seiner Politik der offenen Grenzen – täglich kommen rund 300 Syrer. Zumindest einer will demnächst wieder in die andere Richtung: Mossab Aktar, und sein größter Wunsch sei, sagt er, dass sein Polit-Idol Erdogan irgendwann einmal seinen kleinen Erdogan in Händen hält.

Syrien: Drei Millionen sind auf der Flucht
Im Land Wegen der Kämpfe befinden sich zwei Millionen Menschen auf der Flucht innerhalb Syriens. Weit mehr als 100.000 der so genannten „Internal Displaced Persons“ (IDPs) befinden sich an der Grenze zur Türkei. Eine jüngste Schätzung des Roten Halbmondes geht sogar davon aus, dass bis zu vier Millionen Syrer in ihrem Heimatland auf der Flucht sind.

Im Ausland Dazu kommen 1,1 Millionen Syrer, die über die Grenze ins Ausland geflüchtet sind, davon fast die Hälfte in die Türkei (400.000). Jordanien beherbergt ebenso wie der Libanon 340.000 Flüchtlinge.

Alistair Dutton, der Direktor für humanitäre Projekte der Caritas Internationalis, besuchte im März den Humanitären Kongress in Wien. Mit dem KURIER sprach er über ...

...Hilfe in Syrien In Syrien kümmern sich die Türkei, Jordanien und der Libanon um Flüchtlinge – und die Kirche. Denn die Kirche hat dort tiefe Wurzeln und das Vertrauen der Leute. Der Bischof von Aleppo zum Beispiel, der zu mir gesagt hat, er wacht täglich zum Lärm der Bomben auf: Er ist dort und er war schon immer dort. Syrer helfen Syrern und zwar ohne Diskriminierung.

... eine mögliche Intervention in Syrien Wir als kirchliche Organisation würden nie für eine Intervention plädieren. Es ist schwer zu sagen, ob das was ändern würde. Wir sind für den Dialog. Zu unseren Prinzipien zählt, neutral, unabhängig und unparteiisch zu sein. Wir wollen Langzeit-Lösungen.

Kampfeslust und tiefe Trauer im Flüchtlingslager
Alistair Dutton, Caritas Internationalis
... Haiti nach dem Erdbeben Das war wohl die härteste Katastrophe, in der ich je arbeiten musste. Wir unterschätzten das Trauma, und wir tun es noch. Es war einfach jeder betroffen: In der Hauptstadt starb einer von zehn Menschen. Man muss ja wissen, das passierte alles in der Hauptstadt Port-au-Prince. Das Beben enthauptete die Regierung regelrecht. Jede Planung war völlig weg, Computer, Dokumente, das Bankensystem, der Handel, alles. Das muss alles erst einmal wiederhergestellt werden, bevor es dort überhaupt weitergehen kann.

... die heutige Lage in Darfur 2004 startete die große Hilfsaktion in Darfur, ich war selbst eingebunden bei der Entwicklung des Programms. Leider ist die Situation seither nicht weniger ernst geworden. Ich war erst vor Kurzem dort. Jetzt können die Menschen in den Camps zumindest vernünftig leben, es ist trocken, es gibt Wasser und Gesundheitsversorgung. Aber man kann die Camps nicht verlassen, sonst wird man angegriffen. Das ganze Leben ist in der Warteschleife. Nötig wäre der politische Wille in Khartum.

... wie in Darfur seit 2004 geholfen wurde Wir unterstützten dort in den vergangenen zehn Jahren eine halbe Million Menschen. Die Kosten beliefen sich dafür auf 100 Millionen Dollar. Das Verhältnis mit der Regierung in Khartum ist sehr schwierig. Aber die Kirche hat das Recht zu bleiben, wenn andere das Land verlassen müssen.

... die Arbeit der Caritas in Krisengebieten auf der Welt Die Caritas Internationalis ist ein globaler Verband der Kirche mit 164 Mitgliedern. Es gibt nur wenige Ausnahmen, wo wir nicht vertreten sind, wie etwa Afghanistan. Wir wollen den Menschen in all ihren Dimensionen begegnen, als Personen mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Es geht nicht nur um Wasser, Essen und Gesundheitsvorsorge, sondern auch um Nachhaltigkeit.

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