Die harte Tour des „Sultans“

Warum der frühere Straßenverkäufer die Istanbul-Proteste niederknüppeln ließ und dann doch einlenkte.

Nach einem intensiven Arbeitstag sitzt er ruhig auf dem Sofa, lässt sich ab 22.30 Uhr eine halbe Stunde lang die Fragen vom Englischen ins Türkische übersetzen und antwortet in wohlüberlegten Wendungen. Ein Mann, der weiß, was er will, und wohin er will, und wie er dort hinkommt. So präsentierte sich Recep Tayyip Erdogan in seinem ersten KURIER-Interview 2003 – im selben Jahr war er türkischer Premier geworden. Selbstbewusst (aber noch im Rahmen) trat er damals schon auf. Und die Aura seiner starken Persönlichkeit füllte die noble Suite im Wiener Imperial-Hotel prall aus.

Zu diesem Zeitpunkt war der Sohn eines Seemannes bereits einen weiten Weg gegangen. Auf diesem lagen viele Steine, Erdogan räumte sie alle weg. Das war harte Arbeit und machte auch ihn hart.

„Imam Beckenbauer“

Schon in seiner Kindheit musste er in seinem Istanbuler Distrikt Kasimpasa Sesam-Ringe verkaufen, um das Einkommen der Familie aufzubessern. Der kleine Tayyip biss sich durch. Er war ehrgeizig, beharrlich, mit einem Zug zum Tor – was dem streng gläubigen Muslimen und leidenschaftlichen Kicker den Spitznamen „Imam Beckenbauer“ eintrug.

Doch er sollte nicht auf dem Rasen brillieren, sondern auf dem Parkett der Politik. Früh sympathisierte Erdogan mit dem politischem Islam in der Türkei und mit dessen Grauer Eminenz, Necmettin Erbakan. Der war sein Mentor. Mit nur 40 Jahren wurde Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul. Und zeigte erstmals eine Eigenschaft, die er später auch als Premier an den Tag legte: In Religionsfragen streng konservativ – seine Frau Emine und die beiden Töchter tragen stets das Kopftuch, in der realen Politik aber sehr pragmatisch. Dass in seiner Amtszeit Müllabfuhr und Wasserversorgung plötzlich funktionierten, machten den Saubermann vom Bosporus im ganzen Land bekannt.

Aufgrund seines Erfolges und seiner Popularität wähnte er sich als unantastbar. Ein Irrtum, dem er auch rund um die aktuellen Proteste in Istanbul erliegen sollte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Wegen dieses Sagers, den Kritiker als Beleg für Erdogans vermeintliche islamistische Agenda heranziehen, landete er 1999 für vier Monate im Gefängnis.

Läuterung oder Kalkül?

Wenig später sagte er sich von Erbakan los und gründete die gemäßigt islamische AK-Partei, die wie eine Rakete abging. Schon bei ihrem ersten Antreten schaffte sie 2002 die absolute Mandatsmehrheit. Doch das Regieren war kein Honiglecken. Erdogan durfte wegen eines politisches Betätigungsverbots (im Zuge der Verurteilung) erst 2003 auf dem Premiersessel Platz nehmen. Die bisherigen Polit-Eliten warfen dem verhassten und suspekten Aufsteiger nur Prügel in den Weg. Und im Militär wurden wieder Putschpläne gewälzt.

Der frühere Straßenverkäufer nahm die Herausforderung an und ging nach diesem Stahlbad als Sieger hervor. Die Opposition wurde bei den kommenden Wahlen gedemütigt, die Armee in die Kasernen verbannt. Und nebenbei sorgte der starke Mann vom Bosporus dafür, dass das BIP pro Kopf in einer Dekade verdreifacht werden konnte.

Doch nicht nur die Wirtschaft hob ab, auch der Premier, der das Land auf Großmacht und konservativ trimmen will. Der weltgrößte Flughafen soll in Istanbul entstehen und ein riesiger Kanal das Schwarze mit dem Mittelmeer verbinden. Kritik daran – sinnlos. „Sultan Tayyip“ schafft an und regelt auch, wann man Alkohol kaufen darf und wie viele Kinder frau gebären soll (mindestens drei).

Schlagabtausch mit Israel

Beflügelt vom Erfolgslauf in der Türkei, haute der Führer der global 17. stärksten Volksökonomie auch international auf den Putz – und über die Stränge. Seine Attacken nach der israelischen Aufbringung der „Gaza-Flottille“, die Hilfsgüter in den Küstenstreifen bringen wollte, sind legendär. Erdogan wurde in der arabische Welt gefeiert, die türkisch-israelischen Wirtschaftsbeziehungen liefen trotzdem wie geschmiert weiter. Bei seinem Wien-Aufenthalt im Februar 2013 anlässlich einer UN-Konferenz setzte er noch einen drauf und nannte den Zionismus ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Dass er dafür international kritisiert wurde, perlte an ihm ab.

Die Proteste in Istanbul dagegen zeigten Wirkung. Nachdem der Premier die Lage lange falsch eingeschätzt hatte, lenkte er im letzten Moment ein. Der gewiefte Taktier gab den Pragmatiker, denn nach dem harten Aufstieg zur Macht schmeckt diese viel zu süß, um mit 59 Jahren schon davon zu lassen.

Denn der bedeutendste türkische Politiker seit Staatsgründer Atatürk hat noch viel vor: Er will Staatspräsident werden – ausgestattet mit umfassenden Kompetenzen. Das wäre dann der Höhepunkt seines langes Weges. Doch die letzte Etappe für diesen ultimativen Gipfelsieg wird äußert hart – speziell nach den Turbulenzen der vergangenen zwei Wochen, die die Türkei verändert haben.

Trotz eines von der Regierung verhängten Baustopps für die Errichtung einer umstrittenen Kaserne im Herzen der türkischen Metropole Istanbul wollen die Demonstranten ihre Proteste fortsetzen und ihr Zeltlager im Gezi-Park nicht abbrechen. Das haben die Delegierten der „Taksim-Plattform“ in der Nacht auf Samstag beschlossen – benannt nach dem angrenzenden Platz, auf dem es seit Ende Mai zu schweren Straßenschlachten mit der Polizei gekommen war.

Für die Aktivisten ist das Angebot von Premier Tayyip Erdogan zu wenig, sie fordern zudem eine Bestrafung der Verantwortlichen für die Polizeigewalt, eine Freilassung aller bei den Protesten Festgenommenen sowie eine umfassende Beachtung der Demonstrations- und Meinungsfreiheit.

Um zu deeskalieren, hatte die Regierung eine Baustopp ausgesprochen, ein Gericht solle nun urteilen, und bei einem positiven Bescheid solle es ein Referendum geben. Erdogan an die Gezi-Park-Besetzer: „Ihr habt eure Botschaft ausgedrückt. Warum wollt ihr also noch bleiben?“

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