"Die Gesellschaft ist hypnotisiert"

"Volkswille, Volksstärke": Dafür steht Premier Erdogan laut seinen Wahlplakaten und seinen Fans.
Bei den Präsidentenwahlen am Sonntag ist Premier Erdogan der klare Favorit. Ein Lokalaugenschein.

Wo du auch hingehst, wir kommen mit", verkündet ein riesiges Wahlplakat mit dem Abbild des türkischen Premiers Recep Tayyip Erdogan. Es hängt von der Fassade der AKP-Parteizentrale in Malatya, einer konservativen Stadt mitten in Anatolien. Vorne erstreckt sich die menschenleere, neu asphaltierte Hauptstraße mit moderner Straßenbeleuchtung, ein typisches Zeichen für AKP-dominierte Ortschaften. Es ist Vormittag, aber die mehrstöckigen Häuser, die Moscheen und kahlen Hügel des Taurus-Gebirge ringsum glühen schon in der Sommerhitze.

Abgesehen vom Erdogan-Plakat kündet in Malatya nichts von der ersten direkten Präsidentschaftswahl in der Türkei am 10. August. "Dieser Wahlkampf ist anders als sonst. Wir bekommen alle Lieder und Logos von der Parteizentrale", sagt der AKP-Chef in Malatya, Bülent Tüfenkci. Erdogans Sieg gilt hier als so gut wie sicher. Bei der Kommunalwahl Ende März bekam seine Partei 63 Prozent der Stimmen in der Provinz. Die anderen zwei Kandidaten haben in Malatya so gut wie keine Chance: Ekmeleddin Ihsanoglu, gemeinsam aufgestellt von der sozialdemokratischen CHP und der ultranationalistischen MHP, und Selahatin Demirtas von der kurdischen Partei HDP.

Ermordeter Missionar

Die Stadt ist für ihre Marillen bekannt, aber auch durch den brutalen Mord an dem deutschen christlichen Missionar Tilman Geske und zwei türkischen Christen 2007. Sie wurden gefoltert, am Ende schnitt man ihnen die Kehlen durch. Seit einigen Wochen laufen die vier mutmaßlichen Mörder von Geske wieder frei herum. Eine Gesetzesreform hat die jahrelangen Haftstrafen ohne Gerichtsurteil reduziert. "Das ist ein sehr unangenehmes Gefühl, zu wissen, dass diese Menschen wieder unter uns sind", erzählt ein Ladenbesitzer. Was die Präsidentschaftswahl angehe, sei es gut, dass man den Präsidenten direkt wählen könne. Da aber schon von vornherein klar sei, wer gewinne, sei die Aufregung eher gering.

Auch in Elazig, einer anderen konservativen anatolischen Stadt, 90 Kilometer nordöstlich von Malatya hat die Regierung eine neue Hauptstraße mit ultramoderner Beleuchtung gebaut. Ein großes Hotel, ein Einkaufszentrum. Und auch hier hat die AKP die Mehrheit – etwa 55 Prozent.

Doch Osman Demir, der Chef der zweitgrößten Partei in Elazig, der ultranationalistischen MHP, gibt sich noch nicht geschlagen. "Die unentschiedenen Wähler oder diejenigen, die kleinere Parteien unterstützen, machen fünf bis sechs Prozent aus. MHP und die sozialdemokratische CHP sollten um die 40 Prozent der Stimmen bekommen", rechnet Demir vor. Der kräftige Mann mit kurzen schwarzen Haaren, schwarzem Anzug und weißem Hemd ohne Krawatte sitzt hinter einem großen leeren Schreibtisch im Empfangszimmer der Parteizentrale. An der Wand hängt ein Plakat mit den Parteiführern, die sich mit dem MHP-Zeichen begrüßen: Man bringt Daumen, Mittel- und Ringfinger zusammen, um den Kopf eines Wolfes zu formen. Der Zeige- und kleine Finger bilden die Ohren. Der graue Wolf – daraus sei das türkische Volk entstanden, und das ist das Parteiwappen der Ultranationalisten.

Demir beschwert sich über den Wahlkampf: "Erdogan verwendet Regierungsmittel." Er kontrolliere auch die Medien – und das bedeute: "Die Gesellschaft ist hypnotisiert."

Die CHP wollte mit der unerwarteten Kandidatur vom Ihsanoglu diesen Bann durchbrechen. Viele Anhänger mögen aber den konservativen Moslem nicht, und wollen die Wahl boykottieren. Auch die eigenen CHP-Leute waren von seiner Wahl überrascht, erzählt Kemal Bozkurt, der CHP-Chef in Tunceli, einer liberalen Oase der Minderheit der Aleviten. Mittlerweile habe man sich aber damit abgefunden.

Das ist aber auch unwichtig: Im von den Kurden dominierten Tunceli gewinnt sowieso Demirtas, anderswo ist meist Erdogan der klare Favorit. AKP-Mann Tüfenkci: "Der Erfolg bei der Kommunalwahl hat schon gezeigt, dass Erdogan der Mann ist, den die meisten als ihren Präsidenten sehen wollen."

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