Türkei: 235 Menschen wegen "Terrorpropaganda" festgenommen

Den insgesamt 235 Verdächtigen werden demnach Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zur Last gelegt.

Nach dem Doppelanschlag in Istanbul mit 44 Toten hat die türkische Polizei in landesweiten Razzien mehr als 230 Menschen wegen Vorwürfen der Terrorpropaganda festgenommen. Die 235 Festgenommenen hätten "im Namen einer Terrororganisation" gehandelt und "Terrorpropaganda über soziale Medien verbreitet", meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Viele der Festgenommenen waren Mitglieder der pro-kurdischen Partei HDP. Insgesamt wurden am Montag 198 HDP-Anhänger und -Politiker festgenommen, darunter die örtlichen Parteivorsitzenden von Istanbul und Ankara, Ayse Güzel und Ibrahim Binici, meldete die Agentur weiter. Zahlreiche Regierungskritiker kamen in den vergangenen Monaten unter dem Vorwurf der "Terrorpropaganda" vor Gericht. Damit ist insbesondere die angebliche Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gemeint. Dutzende Journalisten befinden sich deswegen in Untersuchungshaft; die beiden Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, sitzen ebenfalls im Gefängnis. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu kündigte am Montag erneut einen entschlossenen Kampf gegen den Terror an. Aufgabe der Regierung sei es, "Terrororganisationen" und ihre "Marionetten" aus der Region "für immer zu eliminieren", sagte er.

Kurdische Extremisten

Nach dem Doppelanschlag von Istanbul ist die Zahl der Toten zudem auf 44 gestiegen. Darunter seien 36 Polizisten und 8 Zivilisten, teilte Gesundheitsminister Recep Akdag am Montag mit, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Ob die Zahl den Selbstmordattentäter beinhaltet, ließ der Minister offen.

Zu den Taten bekannten sich die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), eine kurdische Extremistengruppe, die der PKK nahe stehen soll. Mit den Anschlägen hat die Tak nach eigenen Angaben auf die Gefangenschaft des PKK-Anführers Abdullah Öcalan und die türkischen Militäroperationen vor allem im Südosten des Landes aufmerksam machen wollen. Solange diese anhielten, solle "niemand erwarten, ein geruhsames Leben in der Türkei führen zu können".

Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte nach dem Doppelanschlag Vergeltung an. Die Attentäter würden "einen hohen Preis zahlen", sagte er. Die türkischen Sicherheitskräfte gehen bereits seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli hart gegen kurdische Oppositionspolitiker vor. Unter anderem wurden die beiden Ko-Vorsitzenden der HDP festgenommen. Zudem wurden dutzende prokurdische Bürgermeister im Südosten des Landes festgenommen. Mit dem heutigen Tag ist die Opferzahl ist die Zahl der Toten auf 39 gestiegen. Eine 28-jährige Frau sei im Krankenhaus an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben, meldete die Nachrichtenagentur DHA am Montag. Sie sei im Moment des Anschlages in einem Minibus unterwegs gewesen.

Die Türkei und die EU

Im EU-Außenministerrat in Brüssel stehen an diesem Montag und Dienstag harte Auseinandersetzungen über die Beitrittsgespräche mit der Türkei an. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) will die Weiterführung der Verhandlungen blockieren. Er habe sich eng mit den Niederlanden und Bulgarien abgestimmt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach sich dagegen für eine Fortsetzung der Gespräche aus. Er hält eine Blockade für falsch. "Es lohnt sich vor allem wegen der Menschen, mit dem Land im Gespräch zu bleiben", sagte Juncker der "Welt am Sonntag". Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, sprach sich ebenfalls gegen einen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche aus. Die Entscheidung im Außenministerrat muss einstimmig fallen.

Demokratiefeindliche Türkei

Der deutsche Grünen-Chef Cem Özdemir widersprach dieser Auffassung und verwies auf den "demokratiefeindlichen" Kurs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er wisse nicht, "wodurch sich Erdogan und seine Schergen gegenwärtig für eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen empfohlen haben", sagte Özdemir der Tageszeitung "Welt" (Montag). "Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei liegen gegenwärtig auf Eis und genau da sollte man sie auch belassen."

Türkei: 235 Menschen wegen "Terrorpropaganda" festgenommen
People mourn next to the flag-draped coffins of police officers killed in Saturday's blasts in Istanbul, Turkey, December 11, 2016. REUTERS/Murad Sezer

Deutschland will die Beitrittsgespräche nicht abbrechen, aber unter den derzeitigen Umständen auch keine neuen Verhandlungskapitel eröffnen. Parlamentspräsident Schulz sagte der "Bild"-Zeitung (Montag), die Türkei sei zwar kein einfacher Partner, die politische Entwicklung des Landes "besorgniserregend". Ein Abbruch der Verhandlungen könne aber zu einer weiteren Eskalation führen. "Denn Sprachlosigkeit hat noch nie weiter geführt." Das Europaparlament hatte mit großer Mehrheit gefordert, die Beitrittsgespräche mit der Türkei ganz ruhen zu lassen. Die EU-Abgeordneten verlangten von der EU-Kommission und den Mitgliedstaaten, nicht weiter mit Ankara über offene Verhandlungskapitel zu sprechen und keine neuen zu eröffnen. Rechtlich bindend ist die Aufforderung nicht. Darüber entscheiden die EU-Staats- und Regierungschef.

Türkei griff PKK-Stellungen im Nordirak an

Nach den schweren Anschlägen auf die Polizei in Istanbul hat die türkische Luftwaffe Stellungen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak bombardiert. Kampfflugzeuge hätten am Sonntagabend das Hauptquartier der kurdischen Rebellen in der nordirakischen Region Sap sowie nahegelegene Bunker und Geschützstellungen zerstört. Das teilten die türkischen Streitkräfte laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Montag mit. Die PKK hat seit Jahren ihr Hauptquartier in den Kandil-Bergen im Nordirak und sieht sie sich immer wieder Angriffen der türkischen Luftwaffe ausgesetzt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte nach den jüngsten Attentaten Vergeltung angekündigt. In Adana in der Südtürkei seien in den frühen Morgenstunden rund 500 Polizisten, sowie gepanzerte Fahrzeuge und ein Hubschrauber im Einsatz gewesen. Den festgenommenen Politikern werden Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zur Last gelegt. Die türkische Luftwaffe greift immer wieder PKK-Ziele in den Bergregionen des Nachbarlandes an, seit im Juli 2015 eine zwei Jahre zuvor ausgerufene Waffenruhe scheiterte. Die PKK kämpft seit drei Jahrzehnten für mehr Kurden-Autonomie. Dabei wurden mehr als 40.000 Menschen getötet.

Kurden-Konflikt in Türkei

Rund vier Jahre ist es her, dass die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdogan noch offiziell bestätigte, dass sie Verhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) führt. Von der damaligen Hoffnung auf eine Beilegung des blutigen Konflikts in der Türkei ist nach der erneuten Eskalation im Sommer 2015 nicht viel geblieben. Insbesondere seit dem Beginn der türkischen Intervention in Nordsyrien im heurigen August scheint eine Rückkehr zum Friedensprozess noch schwieriger:

28. Dezember 2012: Erdogan, damals Premier des Landes, bestätigt offiziell, dass der Geheimdienst Verhandlungen mit dem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan führt.

21. März 2013: Öcalan ruft die PKK zum kurdischen Neujahrsfest (Newroz) zur Einstellung der Kämpfe und zum Rückzug in die nordirakischen Kandil-Berge auf.

10. September 2013: Die PKK-Führung unterbricht den Abzug der Kämpfer und stellt eine Reihe politischer und militärischer Bedingungen für dessen Fortsetzung.

30. September 2013: Die türkische Regierung beschließt ein Reformpaket zum Gebrauch der kurdischen Sprache, doch bleibt es hinter den Erwartungen zurück.

20. Juli 2014: Das Parlament verabschiedet ein Gesetz, das die am Friedensprozess beteiligten Politiker absichern soll, doch kaum Zugeständnisse an die Kurden enthält.

28. September 2014: Die Jihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) startet eine Offensive auf die syrische Grenzstadt Kobane (arabisch Ayn al-Arab), die von kurdischen Milizen verteidigt wird.

6. Oktober 2014: Bei landesweiten Protesten der Kurden gegen die Tatenlosigkeit Ankaras angesichts des Kampfs um Kobane gibt es schwere Unruhen mit dutzenden Toten.

Februar 2015: Trotz fehlender Unterstützung der Türkei gelingt es der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), mit US-Luftunterstützung die Jihadisten aus Kobane zu vertreiben.

März 2015: In Reaktion auf die Kurden-Proteste im Herbst beschließt das Parlament ein Sicherheitsgesetz, das die Befugnisse der Polizei deutlich ausweitet.

7. Juni 2015: Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) gewinnt bei der Parlamentswahl 13 Prozent der Stimmen, die regierende AKP verliert ihre absolute Mehrheit.

20. Juli 2015: 34 Menschen sterben, als sich in der Stadt Suruc im Südosten der Türkei ein IS-Attentäter inmitten junger Aktivisten in die Luft sprengt, die beim Aufbau von Kobane helfen wollen.

25. Juli 2015: Nachdem die türkische Armee in Reaktion auf die Tötung mehrerer Polizisten Luftangriffe auf PKK-Stellungen geflogen hat, kündigt die PKK die Waffenruhe auf.

10. Oktober 2015: Bei einem IS-Selbstmordanschlag auf eine prokurdische Friedensdemonstration in Ankara werden 103 Menschen getötet.

1. November 2015: Die AKP erringt bei der erneuten Parlamentswahl die absolute Mehrheit zurück, die HDP kommt mit elf Prozent erneut ins Parlament.

Mitte Dezember 2015: Das Militär startet eine Großoffensive gegen die PKK in Cizre, Silopi und anderen Städten im Südosten Anatoliens.

17. Februar 2016: Bei einem Anschlag auf einen Militärkonvoi, zu dem sich die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) - eine PKK-Splittergruppe - bekennen, werden in Ankara 28 Menschen getötet.

13. März 2016: Bei einem weiteren Anschlag im Zentrum Ankaras, zu dem sich die TAK bekennt, gibt es 34 Tote.

15. Juli 2016: Gescheiterter Militärputsch in der Türkei gegen Präsident Erdogan.

24. August 2016: Das türkische Militär startet eine Offensive in Nordsyrien, um die IS-Miliz von der Grenze zu vertreiben und den Vormarsch der Kurden zu stoppen.

8. September 2016: Die Regierung suspendiert mehr als 11.000 Lehrer am Beginn des neuen Schuljahres unter dem Verdacht der PKK-Unterstützung.

11. September 2016: Die Regierung beginnt, zahlreiche pro-kurdische Gebietsverwaltungen unter staatliche Zwangsverwaltung zu stellen. Die gewählten Vorsteher dieser Gemeinden gehörten der DBP, des kommunalen Ablegers der HDP, an. In den folgenden Monaten werden einige Bürgermeister auch mit dem Vorwurf der PKK-Unterstützung verhaftet.

09. Oktober 2016: Bei dem Autobomben-Anschlag in der südosttürkischen Provinz Hakkari werden mindestens 17 Menschen getötet, neun davon Soldaten. Die Armee macht die PKK verantwortlich.

4. November 2016: Festnahme der Doppelspitze der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, sowie mehrerer Abgeordneter. Die Partei verkündet in der Folge aus Protest eine Parlamentsboykott.

10. Dezember 2016: Bei einem Bombenanschlag der TAK auf Polizisten bei einem Stadion in Istanbul werden mehr als 40 Menschen getötet.

12. Dezember 2016: Nach dem Anschlag werden umgehend 118 HDP-Politiker festgenommen. Die türkische Luftwaffe fliegt gleichzeitig Angriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak.

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