"Zukunft ist Europa mehrerer Geschwindigkeiten"

"Zukunft ist Europa mehrerer Geschwindigkeiten"
Der Euro-Beauftragter Thomas Wieser rechnet mit der Bildung von einem Kerneuropa.

KURIER: Herr Wieser, steht Europa am Abgrund?

Thomas Wieser: Das ist mir ein zu geologischer Begriff. Er suggeriert, dass alles im ebenen Gelände vor sich geht, bis ein letzter Schritt plötzlich den vertikalen freien Fall auslöst. Europas Integrationsprozess war immer mit Schwierigkeiten konfrontiert. Ich sehe die Möglichkeit, dass man gemeinsam ein neues Ziel entwickelt und dieses auch emotional vermittelt. Dadurch könnte es einen Aufschwung und einen verstärkten Glauben an den Mehrwert überstaatlicher Institutionen geben, und daraus folgend ein positives Zukunftsgefühl. Derzeit ist das Zentrum des globalen Pessimismus in Europa angesiedelt.

Was muss sich dringend ändern?

Das Beharren auf einem einzigen Vertrag für alle stammt aus einer Zeit als die EU zehn, zwölf oder 15 Mitglieder hatte. Die vergangenen zehn Jahre nach der Erweiterung haben aber gezeigt: Mit 28 Mitgliedern muss es differenzierte Integrationsmodelle geben. Das hängt nicht nur mit den Briten zusammen, die offensichtlich ein anderes Modell suchen. Es gibt eine ganze Reihe von Mitgliedern, deren Verhalten nahelegt, dass sie gewisse Aspekte der Integration nicht mittragen wollen. Am augenscheinlichsten ist dies beim Euro. Es gibt aber noch andere Politikbereiche, wie Schengen. Wir kommen nicht umhin, eine breitere Palette an Integrationsmodellen anzubieten.

Also Zusammenschlüsse von Staaten in unterschiedlichen Bereichen?

In den nächsten fünf bis zehn Jahren muss sich eine Gruppe von Staaten klar werden, ob sie diese Schritte setzen will. Wenn ja, ist das ein viel größerer Einschnitt in die Gewaltenteilung zwischen den Nationalstaaten und einer überstaatlichen Idee als wir es bisher kennen.

Reden wir jetzt vom Staat Europa?

Es gibt viele Modelle einer politischen Union, man muss nicht zwingend an die USA oder die Schweiz denken. Auch der kleinste Transfer von Kompetenzen ist schon ein massiver Einschnitt in die staatliche Verfassung eines jeden Mitgliedstaates. Es gibt nicht ein bisschen politische Union, die der jetzige Vertrag gerade noch aushält. Es gibt nur ein Ja oder Nein.

Das läuft auf ein Kerneuropa hinaus?

Ja, natürlich.

Braucht Kerneuropa eine gemeinsame Außen-, Sicherheitspolitik?

Nicht zwingend. Es ist naheliegend, dass die Schengen-Länder eine gemeinsame Einwanderungs- und Asylpolitik sowie Sicherung der EU-Außengrenze haben. Bei einem Kerneuropa, muss man die Möglichkeit haben, Mitglied der EU zu sein ohne dass man dem inneren Kreis angehört. Unverzichtbar und unverhandelbar ist die Teilnahme am Binnenmarkt und den vier Freiheiten (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Finanzverkehr). Beim gemeinsamen Binnenmarkt kann es keine Opt-Out-Regeln geben.

Hat das Modell Kerneuropa auch einen gemeinsamen Regierungschef?

Nicht im Geringsten. Das Modell politische Union sollte man nicht mit der Schaffung eines europäischen Bundesstaates verwechseln. Es wird nach wie vor den souveränen Mitgliedstaat mit Parlament, Regierungschef, Bundespräsident, Volksanwalt, Patentamt und Rechnungshof geben. Aber: Je tiefer man integriert ist, desto mehr kann es notwendig sein, Kompetenzen an eine übergeordnete Instanz, an der man mitwirkt, abzugeben. Das geschah beim Euro, man hat die eigene Währungspolitik abgegeben.

Es gibt 19 Euro-Länder, wie viele sind es 2030?

Ich nehme an 21. Es ist wahrscheinlich, dass Polen und Tschechien in den nächsten zehn Jahren beitreten werden.

Spitzenpolitiker warnen vor dem EU-Zerfall. Realistisch?

Zu behaupten, dass ein Unglück ausgeschlossen werden kann, wäre intellektuell unredlich. Im Falle der Verrohung oder gar des Zusammenbruches der Kommunikation zwischen den Mitgliedern wäre die wahrscheinlichere Folge ein Versteinerungsprozess der EU. Ich halte es aber für plausibler, dass sich eine Gruppe von Ländern enger zusammenschließt, als dass es zu einem Desintegrationsprozess kommt. Wenn 28 Länder beschließen, aus der EU auszutreten, schaffen wir die EU schlicht ab. Das würde uns in einen Zustand wie vor 60 Jahren zurückwerfen. Das BIP würde massiv sinken, die Arbeitslosigkeit in jedem Land massiv zunehmen. Jedes Land müsste seine eigene Währung einführen, die angesichts globaler Finanz- und Kapitalströme sofort den Attacken der Finanzmärkte ausgesetzt wäre.

Nur mehr Integration rettet die EU?

Im derzeitigen Set up der EU-28 gibt es erhebliche Schwierigkeiten, aber es gibt gleichzeitig die klare Notwendigkeit eines Integrationsprozesses, der nicht für alle gleich sein kann. Ich glaube, dass meine Hypothese eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten oder, korrekter, mehrerer Integrationstiefen, die plausibelste Entwicklung bis 2030 vorhersieht. Wie der Anpassungsprozess dorthin verlaufen wird, ob mit Verwerfungen oder stets aufwärts gehend, kann man allerdings nicht vorhersagen.

Wie sieht es mit der Erweiterung aus?

Eine EU mit unterschiedlichen Integrationstiefen erleichtert die Erweiterung. Dann muss nicht jedes Land, das aufgenommen wird, dem Euro oder einer politischen Union angehören.

Wird die Ukraine ein neues EU-Mitglied?

Die derzeitige katastrophale Lage ist teils auf sehr undurchdachte und unvorsichtige Angebote an die Ukraine zurückzuführen, die von mangelnder geopolitischer Sensibilität geprägt waren. Der Ukraine fehlt nicht die EU-Mitgliedschaft, sondern Governance. Wenn die derzeit herrschende Korruption halbiert würde, wäre das Korruptionsniveau immer noch sehr hoch.

Sehen Sie Russland in der EU?

Sich in einen Staatenbund einzufügen, ist nicht in seinem Interesse. Logisch wäre, dass es im gesamten geografischen Bereich Europas zu einer Kooperation im Bereich Wirtschaft, Politik, Sicherheit und Kultur kommt.

Zur Person

Seit 2012 Euro-Chefkoordinator. Federführend an der Vertragsänderung zur EU-Schuldenbremse und der Wirtschafts- und Währungsunion beteiligt. Zuvor war er Sektionschef im Wiener Finanzministerium. Wieser entstammt einer bekannten Ökonomen-Familie: Sein Urgroßvater war Handelsminister in der Monarchie, ein Ahne Mitbegründer der Wiener Schule der Nationalökonomie.

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