Wie der Kalif den "Islamischen Staat" organisiert

In Teilen Syriens und des Iraks bauten die Dschihadisten staatliche Strukturen auf. Einblicke ins Innenleben.

Bestialische Köpfungen, krause Audio-Botschaften, in denen letztlich der Weltführungsanspruch gestellt wird, sinnlose Zerstörungen von uralten Kulturgütern, gescheiterte Existenzen, die aus Europa in den vermeintlich "Heiligen Krieg" ziehen – das sind gemeinhin die "Bilder", die man im Westen vom Terrorregime des "Islamischen Staates" (IS) hat.

Doch noch bedrückender als diese scheinbar wirre Selbstdarstellung nach außen ist die Tatsache, dass dahinter System steckt, die Extremisten wohl organisiert und trotz so mancher Rückschläge nicht leicht auszuhebeln sind.

Denn in den von ihnen eroberten beziehungsweise kontrollierten Gebieten im Irak und Syrien (entspricht etwa der Größe Großbritanniens) gingen und gehen sie stets nach demselben bewährten Muster vor: Die örtliche Bevölkerung wird "gescannt" in Menschen, die sich dem IS-Gedankengut unterwerfen wollen – diese dienen dann als Rückhalt für weitere Aktivitäten. Und die Unwilligen, die vertrieben oder getötet werden, als abschreckende Beispiele für Wankelmütige.

Rasch beginnt dann der Aufbau "staatlicher" Strukturen: Es werden Steuern eingehoben, auch Schutzgelder, dafür befriedigen die neuen Herren die Grundbedürfnisse der Zivilisten, so gut es eben geht: Strom, Gas zum Kochen, billiges Brot, Armenküchen.

Wie der Kalif den "Islamischen Staat" organisiert

Vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Spitäler werden notdürftig repariert, Schulen ebenso und nach IS-Vorstellungen umgestaltet – also getrennter Unterricht für Buben und Mädchen, die Turnstunde heißt dann "Ertüchtigung zum Dschihad". Bärte für Männer sind Pflicht, Verschleierung von Frauen auch, Alkohol, Tabak und Musik gehören der Vergangenheit an.

Zwölf IS-Provinzen

Dass all diese Vorschriften eingehalten werden, darüber wachen die neu eingesetzten Bürgermeister, ein eigener Beauftragter für Hinrichtungen soll dem geforderten Gehorsam Nachdruck verleihen. Insgesamt hat Abu Bakr al-Baghdadi, der am 29. Juni des Vorjahres das Kalifat ausgerufen hat, sein Reich in zwölf Provinzen unterteilt (sieben im Irak, fünf in Syrien). An der Spitze steht jeweils ein Gouverneur. Diese Statthalter sind den beiden Stellvertretern des "Kalifen" weisungsgebunden.

Minister-Kabinett

Das Kabinett besteht aus mehreren Ministern, unter anderem gibt es Ressorts für Militär/Dschihad, Sicherheit, Gefangene und Finanzen. Im Informations-/Propaganda-Ministerium entstehen die abscheulichen, aber höchst professionell gestalteten Enthauptungsvideos und das für die Rekrutierung im Westen bestimmte Kampfblatt Dabiq, das auch auf Englisch erscheint.

Ein eigener Kriegsrat kümmert sich zudem um die Ausrüstung der selbst ernannten Gotteskrieger, um Anschlagsvorbereitungen sowie um "Märtyrer". Der Schura-Rat samt Shariagerichten sorgt für die Durchsetzung der rigiden Auslegung des Koran, mischt aber auch bei militärischen Angelegenheiten mit. Dieses Gremium geht mitunter auch rigoros gegen Abweichler in den eigenen Reihen vor. Und natürlich versucht der IS-Geheimdienst innere wie äußere Feinde ausfindig zu machen.

Gespeist wird das Budget der Extremisten aus mehreren Quellen. Allen voran aus den Erlösen des Erdölschmuggels. In der zweiten Hälfte des Vorjahres soll der IS täglich 50.000 Barrel (zu jeweils 159 Liter) verkauft haben – um 20 US-Dollar das Fass, ergibt Einnahmen von einer Million Dollar pro Tag. Mit dem Verfall des Ölpreises und nach den Luftangriffen der US-geführten Anti-IS-Allianz dürfte aus dieser Quelle weit weniger sprudeln. Aber Lösegeldzahlungen für Geiseln sowie der Handel mit altorientalischen Antiquitäten fetten den Etat der Islamisten zusätzlich mit Dutzenden Millionen Dollar auf.

Kriegskassa

Damit ist auch die Kriegskassa gut gefüllt. Bisher konnten es sich die IS-Führer leisten, ihren Soldaten (die Zahl wird auf 31.000 geschätzt) 500 bis 600 US-Dollar Sold pro Monat zu zahlen. Ein äußerst lukrativer Job für die Männer aus weitgehend verarmten Familien. Wobei die Dschihadisten-Armee professionell geführt und organisiert ist. Das hängt vor allem damit zusammen, dass viele ehemalige irakische Offiziere, die einst in Saddam Husseins Streitkräften dienten, in den Reihen des IS an maßgeblichen Positionen zu finden sind.

Dort, im Zweistromland, finden sich auch die Wurzeln des "Islamischen Staates". Al-Baghdadi hatte sich nach dem US-Einmarsch 2003 weiter radikalisiert, nützte das Machtvakuum aus, um die Terror-Organisation El Kaida zu stärken, deren Irak-"Filialleiter" er im Jahr 2010 wurde.

Doch nach und nach entfernte sich der Bauernsohn aus Samarra von der Ideologie El Kaidas, die "nur" die "Zionisten und Kreuzritter" (auch im Westen) treffen und vom Ursprung her ein kleines Emirat in Afghanistan etablieren wollte. Al-Baghdadi wollte mehr: Sein eigenes, länderübergreifendes Kalifat, in dem derzeit zwischen acht und zehn Millionen Menschen leben. Und er fordert die bedingungslose Gefolgschaft aller Muslime dieser Welt. Diesen Totalitarismus zieht er konsequent durch – er fällt auf fruchtbaren Boden.

Ideologie-Export

Im Irak konnte er die sunnitischen Stämme, die sich jahrelang durch die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad an den Rand gedrängt sahen, für seine Zwecke gewinnen. In Syrien stiegen al-Baghdadis Dschihadisten in den Wirren des Bürgerkrieges zu einem bestimmenden Faktor auf. Im Libanon und Ägypten existieren mittlerweile IS-Gruppen. Im zerfallenen Libyen hat ein IS-Ableger schon zwei wichtige Städte unter seine Kontrolle gebracht und zuletzt Ausländer einer Ölfirma entführt, darunter auch einen Österreicher (siehe Seite 8 unten). Und selbst im fernen Nigeria unterwarf sich jüngst die dortige Brutalo-Islamisten-Truppe Boko Haram dem Kalifen im Mittleren Osten. Während in Europa junge Menschen mit Migrationshintergrund mit dem IS sympathisieren oder sogar in dessen Namen punktuell Terror verbreiten.

Ein Ende des grausamen Spuks zeichnet sich vorerst nicht ab, auch wenn derzeit eine Offensive gegen den IS läuft und dieser knapp davor steht, die strategisch wichtige Stadt Tikrit im Irak zu verlieren. Manche Experten sprechen von einem neuen Dreißigjährigen Krieg.

"Endstation Islamischer Staat?", betitelt der Islamwissenschaftler und Nahost-Experte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Rainer Hermann sein absolut lesenswertes Buch über die Terrormiliz. Und gibt am Ende die Antwort: Selbst wenn es gelänge, den IS militärisch in die Knie zu zwingen, könnte die Ideologie in anderer, möglicherweise noch blutrünstigerer Form weiterleben.

Hermann zeichnet akribisch die Entwicklung des radikalen, politischen Islam seit dem Umsturz im Iran 1979 über den Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan und dann gegen die USA, über das Erstarken von El Kaida im Irak nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 bis zum "Kalifen" al-Baghdadi in Syrien und dem Irak. Mit kenntnisreichen Tiefenschnitten in die Geschichte werden die Zusammenhänge verdeutlicht.

Regime versagten

Wie der Kalif den "Islamischen Staat" organisiert
Die Grundthese des Experten: Das Versagen der nun teils gestürzten arabischen Regime, die Gesellschaften voranzubringen, habe zu einer Rückbesinnung auf die vermeintlich "wahren Werte" des Islams geführt, zu einer radikalen, mittelalterlichen Ausprägung. Aber auch zum "Arabischen Frühling", den der Autor als "Bruch" bezeichnet, in dessen Gefolge sich in vielen Staaten Chaos, Gewalt und eben der IS ausbreiten konnte, weil der Islam als einziger Anker geblieben sei. Ausführlich und detailliert wird die aktuelle Situation in den direkt oder indirekt betroffen Staaten beschrieben – von Ägypten bis Libyen, vom Iran über Saudi-Arabien bis Katar.

Herzstück des außerordentlich guten Buches ist das spannende Porträt, wenn man so will, des "Islamischen Staates" in all seinen Facetten. Die Auseinandersetzung mit ihm vergleicht Hermann mit dem Gemetzel zwischen Katholiken und Protestanten während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648).

"Erst der Beginn"

Das ernüchternde Resümee des Experten: Dieser Dreißigjährige Krieg der Araber "steht erst an seinem Beginn". Der Westen habe kaum Einfluss auf den Konflikt, die Muslime selbst müssten klären, wie sie es mit dem Islam der Zukunft halten wollten. "Der IS wird keine Endstation sein. Entscheidend ist, was auf ihn folgen wird."

Buchtipp: Rainer Hermann, Endstation Islamischer Staat?, dtv 2015, 144 Seiten, 13,30 Euro.

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