Der Top-Produzent unglücklicher Schüler

Erziehungsfieber und Gleichförmigkeit: Mit kritischem Denken kommt man in Koreas Schulen nicht weit.
Der KURIER hat nachgefragt, wie es ist, beim PISA-Sieger Korea in die Schule zu gehen.

Spät in der Nacht kommt die Mutter mit einer Schale geschnittener Äpfel ins Zimmer des Sohnes, der über seinen Büchern brütet und lernt. „Halte noch eine Stunde durch“, hört der Junior von ihr. Dann geht sie wieder.

Der Top-Produzent unglücklicher Schüler
Ria You
In Südkorea ist es üblich, dass Jugendliche von morgens bis spät in die Nacht lernen. Die Schule dauert von ca. 8 Uhr bis am frühen Nachmittag. Nach dem Mittagessen zu Hause geht es in „Hagwons“ weiter. Das sind Lernzentren, in die jeder Schüler geht. Erst 2012 wurde ein Gesetz erlassen, dass nach 22 Uhr dort niemand mehr lernen darf – sonst würden die Schüler noch länger dort bleiben. Viele Jugendliche studieren danach zu Hause weiter. Alleine oder mit Nachhilfelehrer. „Es heißt hier: Die Schule ist nicht dazu da, den Kindern etwas beizubringen, sondern das Wissen zu überprüfen. Gelernt und gelehrt wird in den Nachmittagsschulen“, sagt Ria You, die in Korea lebt. Auch Byungmo Park hat 16 Stunden jeden Tag gelernt. „Ich bin um 6 Uhr aufgestanden und um 22 Uhr heimgekommen“, erinnert sich der koreanische Student am Konservatorium Wien.

Mit Blaulicht zum Aufnahmetest

Die Anekdote mit den Apfelscheiben stammt von Andreas Schirmer, der an der Koreanologie der Uni Wien unterrichtet und auch als Uni-Professor in Korea arbeitete. (Er hat kürzlich das Lehrbuch „Koreanisch kannst du auch“ publiziert, Anm.) Er sagt, wie viele andere Kenner des koreanischen Schulsystems, dass die Schule nur auf eines ausgerichtet ist: auf eine gute Universität zu gehen.

Der Top-Produzent unglücklicher Schüler
Andreas Schirmer
Es scheint, als würden die Schüler nicht fürs Leben lernen, sondern für die Uni. Kritisches Denken ist hier kaum erwünscht. Die Noten sind nebensächlich – bis es zur nationalen Uni-Aufnahmeprüfung kommt. Am Tag des Tests steht das Land still. Angestellte beginnen ihre Arbeit später, damit es in der Früh nicht zu Staus kommt, wenn die Absolventen zum Test müssen. Gerät ein Prüfling in den Verkehr, ruft er eine Polizeistreife, die ihn mit Blaulicht zum Test führt. Byungmo Park hat sein Examen in Korea gemacht: „Alle Schüler sind an diesem Tag sehr angespannt. Und ihre Familien auch“, sagt er dem KURIER.

Während ihre Kinder in den geschlossenen Räumen die Aufgaben lösen, beten Mütter stundenlang für eine gute Abschlussnote. Denn die ist die Eintrittskarte für die drei besten Unis des Landes. Ohne Universität kommt man in Korea nicht weit. Rund 80 Prozent der Schüler haben das Ziel, eine Universität zu besuchen. Sogar für Flugbegleiterinnen gibt es eine eigene Uni. „Ohne Uniabschluss gibt es hier kaum Möglichkeiten, in einem Unternehmen angestellt zu sein“, sagt You.

Der Top-Produzent unglücklicher Schüler
Byungmo Park
Hinzu kommt die soziale „Ächtung“. „Wenn ein Kind nicht fähig ist, bestimmte Aufgaben zu lösen, wird es von anderen schief angesehen“, erklärt Gi-Suk Chung, der in Wien in die Schule gegangen ist. „Das ist peinlich für die ganze Familie.“ Koreanische Eltern investieren daher viel in die Bildung ihrer Kinder. Teils verschulden sie sich dafür sogar.

Gesundheitliche Folgen

„Ich finde, dass die Schulkinder hier ziemlich fertig aussehen“, sagt Ria You. „Wie Zombies in Uniform.“ Der Druck, den Eltern und Gesellschaft auf sie ausüben, werde zum Alltag. Laut OECD-Bericht ist Suizid die am weitesten verbreitete Todesursache bei unter 40-Jährigen. Mit seiner Selbstmordrate ist das Land Nummer eins. Während koreanische Studenten bei Lesen und Mathematik ganz oben auf der Länderliste aufscheinen, stehen sie bei einer Kategorie ganz unten: Glücklichsein.

Mit dem Ehrgeiz vieler koreanischer Eltern kann Ria You noch nicht so gut umgehen. Sie weiß noch nicht, ob sie ihrem zweijährigen Sohn das antun möchte, ihn in Korea in die Schule zu schicken. „Wenn, dann in einem Umfeld, mit dem ich mich arrangieren kann.“

Ein anstrengender Schultag geht spätabends, oft nach Mitternacht zu Ende. Manchmal können die Kinder danach oder in den Pausen fernsehen. „Natürlich am besten das Erziehungsfernsehen, wo den ganzen Tag Unterrichtsprogramme laufen“, erzählt Schirmer.

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