SPD zittert in Richtung Große Koalition

Die SPD-Delegierten stimmten für Verhandlungen.
Mit 56,4 Prozent stimmen die Delegierten für Koalitionsverhandlungen - eine Schlappe für Schulz.

Martin Schulz sortiert seine Zettel, mit langsamen Schritten geht er auf die Bühne. Mit dabei: eine neue Erzählweise, die den über 600 Delegierten erklären soll, warum sie heute nach seinem Kurswechsel für Verhandlungen zu einer Großen Koalition stimmen sollen. Überzeugen kann er am Ende nur eine knappe Mehrheit, rund 56,4 Prozent. Zwei Mal muss nachgezählt werden. Aber alles der Reihe nach.

Während der Parteivorsitzende am Beginn dieses Tages, seine Rede im Saal des World Conference Center in Bonn durchgeht, wird draußen getrommelt und gepfiffen. Gewerkschafter, Umweltaktivisten, Koalitionsgegner und Jusos mit Zipfelmützen, die Alexander Dobrindts Spott über ihren "Zwergenaufstand" wörtlich genommen haben, empfangen die Politiker: "Die CDU hat ihre asoziale Flüchtlingspolitik durchgesetzt. Nein, Genossen, so nicht", schmettert ihnen eine Aktivistin entgegen.

Drinnen soll die Stimmung besser werden, bevor Schulz ans Pult tritt. Malu Dreyer wird ins Rennen geschickt. Die beliebte Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz war gegen die Koalition und soll jetzt das Eis brechen. Sie erklärt die Großen Koalition zur letzten möglichen Lösung, denn die Union wolle keine Minderheitsregierung.

Dreyer ist heute nicht die einzige, die vor einer Woche das Sondierungspapier kritisierte und jetzt dafür wirbt. Auch Michael "Mike" Groschek, Landeschef der mächtigen SPD in Nordrhein-Westfalen, die ein Viertel der Delegierten stellt, grummelte über die Inhalte. Heute hat er eine andere Botschaft mit: Opposition ist nicht schön, dass habe er selbst leidvoll erfahren müssen. Ein Erneuerungsprozess sei dort ebenfalls nicht möglich, dafür in der Regierung: "Keine Regierungsarbeit der Welt hat uns an der Erneuerung gehindert, wir haben uns nur jedes Mal selbst gehindert, uns zu erneuern."

Jamaika hätte falsch regiert

Dann wird es unruhig im Saal. Alle warten auf Schulz. Jeder hier weiß: Es geht nicht nur um die Zukunft der SPD, auch um seine eigene. Der Mann aus Würselen ergreift das Wort und versucht, eine Brücke zu schlagen. Zuerst zu den Gegnern der Koalition: Die Würde und Stärke unserer Partei liege beiden am Herzen. Dann erklärt er, was ihn zur Wende bewog: "Dschamaika", setzt er im rheinischen Sing-Sang fort, "habe alles verändert." Und eines sei auch klar: "Es hätte Deutschland falsch regiert." Also will er es besser machen. Wie, das stehe im Sondierungspapier: Mehr Geld für Pflege, sozialen Wohnungsbau und Steuerentlastung – das habe man für die Rentner, Familien, Schüler, Alleinerzieher und Azubis erreicht. "Das sind unsere Leute, die verlassen sich auf uns", bekräftigt er in energischem Ton. Und da wäre noch die anderen in Europa, die auf eine deutsche Regierung warten. Emmanuel Macron habe ihn schon angerufen, lässt Schulz wissen, was bei manchen im Saal zu Stirnrunzeln führt. "Lasst uns Meister im Gestalten sein", ruft er ihnen zu. Doch der Applaus ist matt.

"Martin, ich sag’s dir"

Die Delegierten schwanken zwischen Ablehnung, Wunschdenken und Sachzwang. Sarah Böhme aus Nordrhein-Westfalen wird dagegen stimmen, erzählt sie dem KURIER vorab. Sie hat ein Problem mit der Flüchtlingspolitik. "Schulz sprach davon, dass es mit den Sozialdemokraten keine Obergrenze geben wird, im Sondierungspapier steht aber eine Zahl, was soll das?"

Frank Straußberger, ebenfalls Delegierter und Kommunalpolitiker aus Hannover, hat beschlossen, mit "schwerem Herzen" Ja zu sagen. Seine Wähler fragen ihn schon seit Wochen: "Warum macht ihr nicht was?"

Ähnliche Argumente bzw. Zweifel wechseln sich auch bei der Pro- und Contra-Debatte der Genossen am Podium ab. "Die GroKo wird lähmen", ruft die Berliner Abgeordnete Gerlinde Schermer. Und: "Martin, ich sag’s dir, das hat man bei deiner Rede schon gesehen".

Schulz verfolgt die Diskussion mit nachdenklicher Miene. Besonders als Kevin Kühnert die Bühne betritt. Auf seinen Auftritt haben viele hier gewartet. Für den Juso-Chef gibt’s im Vorfeld Jubel. Seine Partei, diagnostiziert Kühnert, befinde sich in einer Endlosschleife. Die Große Koalition habe sich zu einem "regierunggewordenen Sowohl-Als-Auch" entwickelt, sagt der 28-Jährige. Und widmet sich dann dem Parteivorsitzenden: Es sei ein "ehrenwerter Versuch", den Gegnern einer neuen Großen Koalition eine Brücke zu bauen – aber diese Brücke müsse aus Erneuerung und Vertrauensbeweisen gebaut werden." Das sehe er aber nicht, weder intern noch in der Arbeit mit CDU/CSU. "Wenn wir in einer Kneipe wären, könnten wir sagen, die Union schreibt seit Jahren bei uns an."

Angesichts dessen wirbt die ehemalige Juso-Chefin und Fraktionsführerin Andrea Nahles ("Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite") umso kämpferischer für die GroKo und warnt, dass uns die Bürger bei Neuwahlen "den Vogel zeigen." Auch dafür gibt's reichlich Applaus. Und dann stellt Nahles noch in Aussicht, nachzuverhandeln, etwa beim Thema Familiennachzug.

Nach fast 100 Wortmeldungen ist alles gesagt. Doch bevor es zur Abstimmung kommt, ergreift Schulz noch einmal das Wort – und bittet um Zustimmung. Dann heben Genossen ihre Kärtchen. Am Ende reicht es knapp, aber doch für Koalitionsverhandlungen. 362 Delegierte stimmen dafür, 279 votieren dagegen. Noch bevor das Ergebnis offiziell verlesen wird, verlassen die ersten Delegierten wortlos das Gebäude. Auch für Martin Schulz gibt es an diesem Abend, zumindest auf dieser Bühne, nichts mehr zu sagen.

Andreas Jölli (ORF) über SPD-Parteitag

SPD zittert in Richtung Große Koalition
Kevin Kuehnert, leader of Germany's social democratic SPD party's youth organisation "Jusos" and opponent of the "GroKo", as the grand coalition between Germany's social democratic SPD party and the conservative CDU/CSU union is known in German, gives a speech during an extraordinary congress of the SPD in Bonn, western Germany, on January 21, 2018. Germany's divided Social Democrats will hold a crunch vote on whether to pursue a coalition deal with German Chancellor Angela Merkel's conservatives, or plunge the nation into political turmoil. At the extraordinary congress, 600 delegates from the centre-left SPD and its 45-member board will have their say on entering into formal talks for a renewed alliance with Merkel's centre-right CDU/CSU bloc. / AFP PHOTO / SASCHA SCHUERMANN

David gegen Goliath: Kevin Kühnert und Martin Schulz lieferten diese Woche das perfekte Narrativ für die Presse. Auf der einen Seite der Juso-Chef, der von Beginn an gegen eine Große Koalition trommelte, und auf der anderen Seite der SPD-Chef, der nach einem Zickzackkurs auf das Bündnis mit der Union setzt.

Mit seiner beharrlichen und sachlichen Art zu argumentieren, beeindruckte der 28-jährige Politik-Student selbst langjährige Hauptstadtjournalisten. Manche prophezeien ihm gar eine große Karriere. Immerhin kommen aus seinem SPD-Bezirk Tempelhof-Schöneberg zwei Berliner Bürgermeister: Klaus Wowereit und der derzeit amtierende Michael Müller. „Am Ende erobert ein Kevin das Kanzleramt“, meinte jüngst ein Kollege der französischen Presse zu Kühnert. Komplimente wie diese finde er „süß“, doch vorerst will er sich den Jusos widmen.

Dem Parteinachwuchs ist der gebürtige Berliner im Alter von 16 Jahren beigetreten. Nun führt er ihren Widerstand gegen die große Koalition an – warum er so vehemment dagegen kämpft, erklärte er vor Wochen im KURIER-Interview. In seiner Partei liege ein Irrglaube vor. „Zwei Mal sind wir schon in eine große Koalition eingetreten mit der festen Absicht, unsere Positionen deutlich zu machen, sichtbare Erfolge einzufahren. Das haben wir jedes Mal versprochen. Jetzt muss ich aber zur Kenntnis nehmen, dass wir bei Koalitionseintritt 2005 noch bei fast 35 Prozent lagen und zwölf Jahre später mit 20,5 Prozent rausgekommen sind.“ Dass der Parteivorstand, der sich nach dem Jamaika-Aus zwei Mal gegen eine Koalition stellte, nun wieder darauf zusteuert, finde er „mutlos“.

Auf die Frage, was er denn bei einem positiven Votum zu Koalitionsverhandlungen tun wolle? „Weitermachen“ – er werde das Ergebnis natürlich akzeptieren. Aber, kündigte er an, der künftigen Regierung wolle man genau auf die Finger schauen.

Vor genau 55 Jahren sollte er die Feindschaft Deutschland und Frankreichs endgültig beenden. Am 22. Jänner 1963 unterschrieben der deutsche Kanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Präsident de Gaulle den Elysee-Vertrag. Er regelt eine enge Zusammenarbeit beider Länder in Fragen der Außen-, Sicherheits- und Kulturpolitik.

Jetzt wollen ihn Angela Merkel und Emmanuel Macron wieder aufleben lassen – als Geste für ein Vertiefung der EU in Zeiten des Brexit. Ziel sei es, „auf dem Weg zu einem stärker prosperierenden und wettbewerbsfähigen, souveränen, geeinten und demokratischen Europa voranzuschreiten“, hieß es in einer gemeinsamen Videobotschaft. „Wir tun das, um die Menschen in unseren Ländern noch enger zusammenzuführen“, sagte Merkel.

Ziel ist es, im Laufe dieses Jahres, einen neuen Elysee-Vertrag mit konkreten Zielsetzungen abzustimmen. So wollen die beiden wichtigsten EU-Länder die wirtschaftliche Integration in Europa vertiefen: „Wir werden gemeinsame Politik für nachhaltige Entwicklung, Digitalisierung und bahnbrechende Innovationen schaffen.“ Macron wandte sich direkt an die Jugend der beiden Länder: „Nutzen Sie die Möglichkeiten zur Begegnung. Wagen Sie es, die Sprache des anderen zu lernen, seien Sie aufeinander neugierig."

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