Spanien entmachtet Katalonien: Neuwahlen binnen 6 Monaten
Drei Wochen nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien hat der spanische Regierungschef Mariano Rajoy seine Drohung wahr gemacht: Nach einer Krisensitzung des Kabinetts in Madrid leitete er die Entmachtung der katalanischen Regionalregierung ein. Damit hält der 62-Jährige unbeirrt an seinem kompromisslosen Kurs gegenüber den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen fest.
Das Kabinett habe am Samstag beschlossen, Artikel 155 der Verfassung zu aktivieren, sagte Ministerpräsident Mariano Rajoy in Madrid. Es solle binnen sechs Monaten eine Neuwahl in Katalonien stattfinden. Den einzelnen Maßnahmen muss noch der Senat, das Oberhaus des spanischen Parlamentes, zustimmen.
Der Senat wird am Freitag in Madrid tagen und über die Maßnahmen gegen die Separatisten abstimmen. Das habe das Präsidium der zweiten Parlamentskammer am Samstag beschlossen, teilte ein Senatssprecher mit.
Das grüne Licht des Senats für die Maßnahmen gilt als sicher, da die konservative Volkspartei (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy dort eine absolute Mehrheit hat.
Puigdemont spricht von "Putsch"
Der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont hat die Maßnahmen der Zentralregierung als "Putsch" sowie als "inakzeptablen Angriff auf die Demokratie" zurückgewiesen. Es sei die "schlimmste Attacke" gegen Katalonien seit der Diktatur von Francisco Franco (1939-1975), sagte Puigdemont in einer Fernseh-Ansprache am Samstagabend in Barcelona.
Zur Ausrufung von Neuwahlen zum Regionalparlament sagte Puigdemont: "Die Absetzung einer demokratisch gewählten Regierung ist mit einem Rechtsstaat unvereinbar." Man werde aber "weiter kämpfen", beteuerte der Katalane ohne Bekanntgabe von Maßnahmen.
Rund 450.000 protestieren in Barcelona gegen Madrid
Hunderttausende Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung der spanischen Region Katalonien sind in Barcelona auf die Straße gegangen, um gegen die Zentralregierung in Madrid zu protestieren. Die Demonstranten forderten am Samstag die Freilassung von zwei führenden Aktivisten der separatistischen Bewegung, Jordi Sanchez und Jordi Cuixart. Die Polizei schätzte die Zahl der Teilnehmer auf rund 450.000.
Zur Kundgebung hatte der separatistische Dachverband Taula per la Democracia aufgerufen, nachdem die Aktivisten am Montag in U-Haft genommen worden waren. Den Chefs der Organisationen Katalanische Nationalversammlung (ANC) und Omnium Cultural wird "aufrührerisches Verhalten" bei einer Kundgebung im September vorgeworfen.
Puigdemont bei Demo
Die Demonstranten protestierten am Samstag auch gegen die Zwangsmaßnahmen und trugen Plakate mit Aufschriften wie "Help Catalonia!" Unter den Teilnehmern waren neben anderen Politikern Regionalpräsident Puigdemont sowie auch Ada Colau, die linke Bürgermeisterin Barcelonas. Colau gehört zwar der Unabhängigkeitsbewegung nicht an, sie steht der konservativen Zentralregierung in Madrid aber sehr kritisch gegenüber.
Artikel 155
Rajoy und seine Minister entschieden sich für die Anwendung von Artikel 155 der spanischen Verfassung. Die bisher noch nie angewandte Regelung ermächtigt Madrid, "die notwendigen Mittel zu ergreifen", um eine autonome Region zur Erfüllung ihrer rechtlichen Pflichten zu zwingen. Er sieht das Aussetzen der Autonomierechte einer Autonomen Gemeinschaft in Spanien wie etwa Katalonien vor, wenn diese ihre von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt "oder so handelt, dass ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt".
Zwang
Rajoy sagte am Samstag, man habe den Artikel nicht aktivieren wollen, sei aber von Katalonien "dazu gezwungen" worden. Die jüngsten Daten zur katalanischen Wirtschaft seien besorgniserregend, so Rajoy. Immer mehr Unternehmen verlegten nach dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober ihren Sitz aus Katalonien in andere spanische Regionen. Die katalanische Wirtschaft könnte im Falle der Unabhängigkeit um 30 Prozent einknicken, warnte der spanische Regierungschef.
Die Ziele der Zwangsmaßnahmen seien demnach neben der Neuwahl die Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums sowie die Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit und des friedlichen Zusammenlebens in Kataloniens. Keinesfalls sollten mit den jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen die gesamte Autonomie und die Selbstverwaltung Kataloniens ausgesetzt werden, betonte der Ministerpräsident.
Alternativen
Statt einer kompletten Entmachtung der Regionalregierung wäre auch nur eine Entlassung der Verantwortlichen mit bestimmten Aufgabenfeldern denkbar gewesen. Für das radikalere Vorgehen hatte sich Rajoy zuvor Rückendeckung anderer Staats- und Regierungschefs der EU geholt, darunter die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Vermitteln will die EU selbst in dem Konflikt nicht.
Ultimatum verstrichen
Die katalanischen Separatisten hatten am Donnerstag ein zweites Ultimatum der Zentralregierung verstreichen lassen, in dem eine klare Antwort verlangt worden war, ob sich die Region für unabhängig erklärt hat oder nicht. Am 1. Oktober wurde in der nordspanischen Region ein Unabhängigkeitsreferendum abgehalten. 90 Prozent stimmten für die Loslösung von Spanien, allerdings nahmen nur rund 43 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Das gewaltsame Vorgehen der spanischen Polizei gegen die Teilnehmer hatte die Gräben zwischen Katalonien und der Zentralregierung weiter vertieft.
Webseite von Verfassungsgericht lahmgelegt
Ein mutmaßlicher Cyberangriff hat die Internetseite des spanischen Verfassungsgerichts lahmgelegt. Seit Samstagfrüh sei die Seite überlastet und daher nicht mehr erreichbar, erklärte eine Gerichtssprecherin. Am selben Tag beschloss das spanische Kabinett in einer Krisensitzung Zwangsmaßnahmen gegen die nach Unabhängigkeit strebende Regionalregierung von Katalonien.
Offenbar handelte es sich um eine sogenannte DDoS-Attacke, mit der die Angreifer ihr Ziel durch Überlastung lahmlegen. Die spanische Sicherheitsbehörde DSN hatte am Freitag gewarnt, dass Aktivisten der Internetbewegung Anonymous unter dem Stichwort "FreeCatalunya" einen Cyberangriff planten.
Ob die Gruppe allerdings tatsächlich hinter dem Angriff am Samstag steckte, war laut der Gerichtssprecherin zunächst unklar. Der Rest des IT-Systems im Gericht war demnach nicht betroffen.
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