Sigmar Gabriel über Sozialdemokraten: Auf falsche Themen gesetzt

Sigmar Gabriel über Sozialdemokraten: Auf falsche Themen gesetzt
Der frühere SPD-Chef und Ex-Außenminister über die Gründe für die Krise der Sozialdemokraten in Europa.

Er ist einer von 12 SPD-Vorsitzenden im Ruhestand. Seine Partei rasselte in nur zwei Jahrzehnten von 40 auf 20 Prozent Wählerzustimmung, in Umfragen liegt sie aktuell bei 14. Mit dem KURIER sprach der deutsche Ex-Außenminister über die Krise der europäischen Sozialdemokraten und wie seine SPD wieder an Spannkraft gewinnen kann.

KURIER: Herr Gabriel, wie und warum wurden Sie Sozialdemokrat?

Sigmar Gabriel: Als ich Jugendlicher war, sammelten Jungsozialisten aus Spanien in Deutschland Geld für eine Druckmaschine für Flugblätter und Zeitungen gegen die Franco-Diktatur. Bei uns in Goslar machten Sozialdemokraten Solidaritätsveranstaltungen – das fand ich großartig.

Also keine familiäre Prägung?

Ganz im Gegenteil, mein Vater war bis zum letzten Tag seines Lebens überzeugter Nazi. Und der Ratschlag meiner Mutter an mich war immer: Lass die Finger von der Politik, das nimmt kein gutes Ende. Sie hat ja nicht ganz unrecht gehabt (lacht).

Wenn Sie sich in Europa umschauen, die Sozialisten in Frankreich pulverisiert, die SPD in Not, in Österreich steht’s auch nicht gut: Macht Sie das traurig?

Ja, sicher. Ich bin 40 Jahre Mitglied der SPD, war viele Jahre Vorsitzender, kenne die Kollegen und Freunde in Österreich und anderen Ländern: Natürlich ist das bedrückend, das mitansehen zu müssen.

Vor zwei Jahrzehnten noch gab es eine sozialdemokratische Hochblüte in Europa. Wieso dieser schnelle Absturz?

Damals gab es große Hoffnungen auf die Segnungen der Globalisierung, auf den Siegeszug der sozialen Marktwirtschaften. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es sogar die Idee, das „Ende der Geschichte“ sei erreicht, der demokratische Kapitalismus habe gesiegt. Zugleich setzte ein ungeheurer Druck auf Deregulierung und Entstaatlichung ein. Auch Sozialdemokraten haben das zum Teil mitgemacht. Das große Erwachen kam mit der Finanzkrise, als Menschen feststellten: Um Gottes willen, die Versprechungen stimmen ja gar nicht! Wo jahrelang angeblich aufgrund des internationalen Wettbewerbsdrucks kein Geld da war für bessere Löhne, soziale Sicherheit oder Bildungsausgaben, waren über Nacht Hunderte von Milliarden da, um Banken und Finanzmärkte zu retten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt begann die große Skepsis gegenüber „denen da oben“, zu denen wir Sozialdemokraten aus Sicht vieler auch zählen.

Mit Tony Blair und Gerhard Schröder hat sich die Sozialdemokratie also vergaloppiert und Wähler auf der Strecke liegen gelassen?

Es ist leicht zu sagen: Die haben sich damals geirrt. Es war damals der ökonomische Mainstream. Auch in Ihrer Zeitung fanden sich damals die entsprechenden Forderungen an die Politik und an die Sozialdemokraten. Trotzdem haben Sie natürlich recht. Vor allem aber veränderten sich die Erfolgsbedingungen der sozialdemokratischen Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatisch.

Und welche waren das?

Der Glaube an große, kollektive, gemeinschaftliche politische Ideen verschwand. Stattdessen wurden unsere Gesellschaften immer individualistischer. Genau das war ja auch das Ziel sozialdemokratischer Politik: Menschen sollten frei und unabhängig sein in ihrem Leben. Nicht gebunden an das Milieu, aus dem die Eltern stammten. Aufstieg durch Bildung funktionierte ja auch. Aber mit der Unabhängigkeit vom Milieu verlor sich auch die Bindung ans sozialdemokratische Milieu. Zeitgleich führte der Fall des Eisernen Vorhangs auch zu einer weltweit vernetzten Wirtschaft, was wir heute als Globalisierung bezeichnen.

Und wieso ist die schlecht?

Die Fähigkeit, den Sozialstaat mit nationalen Mitteln auszubauen, geriet immer mehr unter Druck. Fast alle sozialdemokratischen Parteien begannen damit, sich von den großen Verteilungsfragen des gesellschaftlichen Reichtums zu verabschieden, weil ein internationales Finanzkapital eben nicht mehr nationalstaatlich zu regulieren war. Für Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, ist aber gerade der zentrale Unterschied linker Parteien zu konservativen. An die Stelle trat nun das, was die Amerikaner „Identitätspolitik“ nannten.

Was ist das?

Kulturelle Themen, Politik für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft traten an die Stelle der großen wirtschaftlichen und sozialen Themen. Gleichstellung von Homosexuellen, Zuwanderern, Nichtraucher-Gesetze, sprachliche Korrektheit und Klimaschutz wurden wichtig. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Alle diese Themen sind auch wichtig. Wenn sozialdemokratische Parteien aber nur noch darüber reden und nicht mehr über die materiellen Lebensbedingungen von Arbeitnehmern und Familien, geht das eigene Profil verloren. Dann gibt es am Ende eine liberal-bürgerliche Partei mehr, nur dass sie sich sozialdemokratisch nennt.

Was gibt es jetzt?

Die Menschen sind viel individualistischer, Großorganisationen wird eher mit Skepsis begegnet. Im Zeitalter einer international verwobenen Wirtschaft mit der Möglichkeit, jeden Staat durch Kapitalentzug zu erpressen, ist es immer schwerer, den Sozialstaat mit nationalen Mitteln zu erhalten. Es gibt keine europäische Antwort darauf. Lange galt die Vorstellung: So ein Binnenmarkt reicht eigentlich, gleiche Wettbewerbsbedingungen, da wird’s für alle besser. Aber, Kommissionspräsident Jacques Delors hat es einmal gesagt: Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.

 

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Die Arbeiterklasse ist der Sozialdemokratie auch verloren gegangen?

Das sagen immer alle. Ich finde, das ein seltsames Argument. Natürlich gibt es Gott sei Dank in Europa nicht mehr die ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter des 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts, die gebeugt im 14-Stunden-Tag in einer finsteren Fabrik arbeiten müssen. Aber dass Menschen nur überleben können, wenn sie ihre Arbeitskraft verkaufen, dass sie abhängige Beschäftigte sind, tarifvertragliche und staatliche Sicherungen brauchen, das hat sich ja nicht geändert. Was ist mit Pflegekräften, Handwerksgesellen, Erziehern, Angestellten, Facharbeitern, Meistern, Technikern, Ingenieuren? Sie erarbeiten auch heute noch den Wohlstand unserer Gesellschaft und sind trotzdem oft genug nicht angemessen an seiner Verteilung beteiligt.

Also eigentlich genug sozialdemokratische Basis?

Ich glaube, dass es eher eine Renaissance gibt: Die Sozialdemokratie stand am Beginn der ersten industriellen Revolution, jetzt reden wir von der vierten. Die wird unsere Arbeitsbeziehungen dramatisch verändern. Auf der kleinen Plattform Upwork in San Francisco arbeiten nur 52 Leute, aber ein paar Millionen Beschäftigte, bloß nicht als Lohnempfänger. Wir haben eine Entbetrieblichung, wie erhalten wir da Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung? Gleichzeitig bietet die Digitalisierung eine Riesenchance, weil sie Flexibilität nicht nur im Interesse des Unternehmers, sondern auch des Arbeitnehmers bietet.

Die Digitalisierung macht auch Angst. Wieso können Rechtspopulisten dies für sich nützen, obwohl die Sozialdemokraten behaupten, Antworten zu haben?

Weil Sozialdemokratie immer vom Hoffnungsüberschuss und nicht vom Angstüberschuss lebt. Angst ist kein guter Ratgeber für eine optimistische, eine der Zukunft zugewandte Gesellschaft und deren politische Bewegung. Die Sozialdemokraten müssen Hoffnung verbreiten, dass man in der Lage ist, aus seinem Leben etwas zu machen.

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Dieses Leben ist in weiten Kreisen erreicht, jetzt fürchten viele, es wieder zu verlieren – da kommen die Populisten …

So ist es. Ich mache es noch einmal an der Digitalisierung fest: Man kann Angst haben und sich ihr nicht widmen. Oder man kann den Verteilungskampf aufnehmen: Was passiert mit den Effizienz- und Produktivitätsgewinnen der Digitalisierung? Das konservative Angebot lautet: Wir haben nicht mehr so viel Arbeit, also machen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen für die, die keine Arbeit finden, stellen sie ruhig, und der Rest arbeitet. Das ist eine schreckliche Vorstellung.

Alternative?

Die Digitalisierungsgewinne der Gemeinschaft zur Verfügung stellen, indem wir alle weniger arbeiten oder Arbeit flexibler halten. 1963 gab es eine Gewerkschaftsbewegung für die Fünf-Tage-Woche. Auf dem Plakat stand nicht, wir wollen weniger arbeiten, auf dem Plakat stand ein kleiner Junge, der sagte: Samstags gehört Vati mir. Die Idee war: Wir wollen Arbeiten und Leben besser miteinander verbinden. Ich finde das eine fantastische Idee, und es ist eine alte sozialdemokratische Idee, Hoffnung zu machen, dass ein anderes Leben möglich ist. Konservative reden davon, wie wir angeblich leben müssen. Sozialdemokraten müssen darüber reden, wie wir leben wollen.

Apropos Flüchtlingskrise: In Ihrem neuen Buch ("Zeitenwende in der Weltpolitik", Anm.) dringt viel Wertschätzung für die Kanzlerin hervor. Die SPD hat in ihrer Koalition viele Treffer gelandet, wie etwa den Mindestlohn, die Rente mit 63 oder die Ehe für alle - all das blieb aber auf der Haben-Seite Merkels. Ist sie für das Dilemma der SPD nicht auch mitverantwortlich?

Sie dürfen von einer CDU-Kanzlerin nicht verlangen, dass sie uns hilft. Sie hat das gemacht, was der CDU am meisten hilft, und festgestellt, die Gesellschaften sind heute viel sozialdemokratischer als vor 30 Jahren. Also hat sie angepasst, man könnte auch sagen: Die Sozialdemokraten haben gewonnen. Die Konservativen sind heute nicht mehr die Reaktionäre der 60er und 70er Jahre. Dafür haben wir inzwischen allerdings andere Parteien. In Österreich die FPÖ und in Deutschland die AfD.

Dennoch lief der Wahlkampf schlecht.

Wenn Sie Wahlkampf machen unter dem Slogan „Zeit für Gerechtigkeit“, gibt es ein paar Menschen, die fragen: Was habt ihr in den 16 Jahren in der Regierung eigentlich gemacht? Das war ein Slogan, den die SPD an sich selbst gerichtet hat, weil sie sich bis heute für die Arbeitsmarkreform von Schröder schämt und sie loswerden wollte. Eigentlich hätte der Slogan auch heißen können: „Zeit, dass wir Sozialdemokraten wieder gerecht werden“.  Die Bevölkerung hat 2017 aber nicht über Gerechtigkeit nachgedacht, sondern über Sicherheit. Es liegt nicht nur an der Klugheit der CDU, sondern manchmal an unserer Selbstbezogenheit, wenn wir an dem Alltagsbewusstsein der Bevölkerung vorbei reden und dann Wahlen verlieren.

Wäre ein künftiger CDU-Chef Friedrich Merz mit einem schärferen konservativen Profil ein Geschenk für die Sozialdemokraten?

Das würde heißen: Man ist selber schwach und hofft, dass andere jemanden nehmen, der es einem einfach macht. Das ist eine komische Vorstellung. Eine Partei, die beginnt ihre Hoffnung darauf zu setzen, dass die anderen Fehler machen, die gibt sich selbst auf.

Apropos aufgeben: Sind die klassischen Volksparteien am Ende und es entstehen gerade ganz andere Volksparteien?

Wenn die Gesellschaft individualisierter wird, wird sich auch das Parteiensystem auffächern. Umgekehrt zeigt Österreich, dass es nicht zwangsläufig so ist: Sebastian Kurz hat mit der ÖVP gezeigt, dass man wieder Spannkraft erringen kann. Allerdings hat er die ÖVP auch privatisiert. Das kann und darf man mit sozialdemokratischen Parteien nicht machen. Vielleicht werden wir Leute brauchen, die in der Lage sind, stabile Regierungen von drei oder vier Parteien zu bilden. Das ist für uns ungewohnt, aber das fordert eine andere Sorte politischer Führung. Für die Demokratie ist es nicht per se eine Katastrophe.

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Wie kann die SPD wieder "Spannkraft" erringen?

Sich wieder auf das konzentrieren, wozu es Sozialdemokraten braucht: wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zusammen zu binden. Auf die Zukunft zu schauen und nicht auf die Vergangenheit. Sich für Europa einzusetzen und sich gegen die verhängnisvolle Tendenz zur Aufrüstung zu stellen. Und darauf zu verzichten, alles gleich wichtig zu erklären. Die Sozialdemokratischen Parteien erscheinen manchmal wie eine Holding. Da haben wir zig Arbeitsgruppen, die alle ihre Programme für absolut erklären. Das Ergebnis sind hunderte von Seiten Wahlprogramm, die kein Mensch liest. Die größten Erfolge haben sozialdemokratischen Parteien in Europa gehabt, deren Wahlprogramm eine Seite lang war. Das haben die Leute verstanden.

Das heißt zu abgehoben und zu sehr Zeigefinger?

Ja, oder zumindest zu wenig konzentriert auf die materiellen Fragen. Wie schaffen wir Wohlstand auch morgen und wie sorgen wir dafür, dass es auch bei allen ankommt. Beides ist wichtig: Wirtschaftlicher Erfolg und gerechte Verteilung. Liberale bürgerlichen Parteien gibt es schon lange und viele. Mit den Grünen gibt es jetzt eine mehr. Eine sozialdemokratische Partei muss auch sozial UND liberal sein.

Die Grünen sind bürgerlich? Sie nehmen aber gerade mit sozialdemokratischen Themen den Sozialdemokraten Stimmen weg.

Sie leben in Deutschland vom Zorn der Menschen über die aktuelle Bundesregierung. Was ich in den Landtagswahlen erlebt habe, ist ein Aufstand der Bevölkerung gegen die Regierung. Es liegt an uns, ob wir uns wieder  den klassischen Fragen widmen, wie materieller Verteilung und der Frage, wie sichern wir wirtschaftlichen Erfolg. Da gibt es bei den Grünen im Wesentlichen keine Antwort.

 

Zur Person: Sigmar Gabriel, geboren 1959 in Goslar, Niedersachsen, war von 2005 bis Oktober 2009 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dezember 2013 bis Januar 2017 leitete er das Wirtschaftsministerium und gab im selben Jahr den Parteivorsitz an Martin Schulz ab. Von Jänner 2017 bis März 2018 war er Bundesminister für Auswärtiges. Heute ist Gabriel Abgeordneter und Autor. Kürzlich erschien sein neues Buch "Zeitenwende in der Weltpolitik" im Herder Verlag.

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