Schulz fordert als SPD-Kanzlerkandidat Merkel heraus

Ex-EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert Angela Merkel heraus
Die Nachricht vom Rückzug Sigmar Gabriels sickerte noch vor den SPD-Beratungen durch. Ex-EU-Parlamentspräsident Martin Schulz soll auch SPD-Chef werden.

Der deutsche SPD-Chef Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und schlägt den bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz als Herausforderer von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor. Schulz solle auch Parteichef werden, sagte Gabriel am Dienstag nach Angaben eines Teilnehmers in der SPD-Fraktionssitzung in Berlin.

"Alle Umfragen haben gezeigt, dass die Menschen keine Große Koalition mehr wollen. Für die stehe ich aber in den Köpfen der Menschen. Daher ist Martin Schulz der geeignete Mann", zitierte der Teilnehmer aus der Gabriel-Ankündigung.

Schulz fordert als SPD-Kanzlerkandidat Merkel heraus
Social Democratic Party (SPD) leader, German Vice Chancellor, Economy and Energy Minister Sigmar Gabriel (L) gestures next to European Parliament President Martin Schulz at the SPD annual federal congress in Berlin on December 12, 2015. AFP PHOTO / CLEMENS BILAN
"Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD", sagte Gabriel dem MagazinStern laut vorab veröffentlichten Passagen aus einem am Mittwoch erscheinenden Interview. Schulz habe "die eindeutig besseren Wahlchancen". Am Dienstagabend will das SPD-Präsidium in Berlin zusammenkommen, um über die personelle Neuaufstellung zu beraten.

Gabriel will Außenminister werden

Zeit Online berichtete, Gabriel wolle auch den Parteivorsitz niederlegen und ins Außenministerium wechseln. Den letzten Ausschlag für diese Entscheidung habe offenbar eine Umfrage unter SPD-Anhängern gegeben, in der eine Mehrheit der Befragten Schulz bessere Chancen bei der Bundestagswahl im September einräumt.

Bisher hatte Gabriel als wahrscheinlichster SPD-Kanzlerkandidat gegolten. Schulz dagegen war als Nachfolger von Außenminister Frank-Walter Steinmeier gehandelt worden, der im Februar voraussichtlich ins Amt des Bundespräsidenten gewählt werden wird.

Schulz fordert als SPD-Kanzlerkandidat Merkel heraus
FILE PHOTO: German Economy Minister and Leader of the Social Democratic Party (SPD) Sigmar Gabriel (L) and European Parliament President Martin Schulz walk on the podium during the SPD party congress in Berlin, Germany, December 12, 2015 REUTERS/Fabrizio Bensch/Files
Die Zeitkündigte für Donnerstag ein großes Gabriel-Porträt an. Es zeige einen Politiker, der "nach einem halben Jahr Nachdenken, Zweifeln, Ringen, nach Fahrplanänderungen und Freundschaftskrisen" nun mit sich im Reinen sei. Der Stern macht bereits morgen Mittwoch mit der Schlagzeile "Der Rücktritt" auf. Teile aus einem Interview mit Gabriel sickerten bereits Dienstagnachmittag durch, weil der Stern wegen der Brisanz des Themas einen Tag früher ausgeliefert wurde, berichtete das BranchenportalMeedia, das als erstes Medium über Gabriels Rückzug berichtete.

Der 61-jährige Schulz war seit 1994 im Europaparlament und zuletzt Präsident. Er schied Ende vergangenen Jahres aus diesem Amt aus. In der Bundespolitik ist er ein Neuling. Die Bundestagswahl findet am 24. September statt. In Umfragen liegt die SPD weit hinter Merkels deutschen Christdemokraten.

Als glühender Europäer hat sich der 60-Jährige in den vergangenen Jahren große Anerkennung über die Parteigrenzen hinweg erworben. So groß, dass im Vorjahr sogar der christdemokratische EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf die Barrikaden gegangen sein soll, um Schulz für eine weitere Amtszeit an der Spitze der EU-Volksvertretung zu halten. Vergangene Woche wurde Schulz aber von Antonio Tajani als EU-Parlamentspräsident abgelöst.

"Als Bürger einer Grenzregion ist man so etwas wie ein Instinkteuropäer", betont der am 20. Dezember 1955 in Würselen bei Aachen geborene Schulz. Wie er in einer kürzlich erschienenen Biographie der KURIER-Journalistin Margaretha Kopeinig schildert, wurde ihm auch die Große Koalition in die Wiege gelegt. Sein Vater ist Sozialdemokrat, die Mutter eine überzeugte CDU-Politikerin.

Der sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt wird für Schulz zum politischen Vorbild, 1972 wirft er sich für ihn in die Wahlschlacht. Inspiriert ist Schulz aber auch von der Literatur: Der sozialkritische amerikanische Schriftsteller John Steinbeck beeinflusst sein Denken, ebenso wie der belgische Autor Georges Simenon.

Geplatzer Traum vom Fußballprofi

Der Traum vom Profi-Fußballstar platzt nach einer schweren Knieverletzung. Nach einer gescheiterten Mathematik-Nachprüfung verlässt Schulz das Gymnasium ohne Matura und startet eine Buchhändlerlehre. Mit 24 Jahren ist er "in der Gosse gelandet", alkoholabhängig, einsam, ohne Wohnung und ohne Job. Nach einer durchzechten Nacht im Juni 1980 gibt sich Schulz dank eines Freundes bei den SPD-Jusos einen Ruck. "Entweder du gehst zugrunde oder du hörst auf zu trinken", schildert er freimütig. Seitdem lebt Schulz abstinent.

1982 gründet Schulz eine eigene Buchhandlung in Würselen, zwei Jahre später zieht er in den Stadtrat ein. 1987 wird er zum Bürgermeister gewählt. 1994 wechselt Schulz als Europaabgeordneter nach Brüssel und Straßburg, wo er sich rasch einen Namen macht. Ein Eklat mit dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi macht Schulz 2003 international bekannt. Schulz wirft Berlusconi, der als EU-Ratspräsident zu einer Debatte nach Straßburg kommt, ein "Virus der Interessenskonflikte" vor. Berlusconi platzt der Kragen, er reagiert mit einem Nazi-Vergleich und schlägt "Signore Schulz" für die Rolle des Kapos in einem Konzentrationslager vor.

2004 wird Schulz Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion, 2012 wird er Präsident des Europäischen Parlaments. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern pflegt der SPD-Politiker ein politisches Amtsverständnis, hält nicht viel von diplomatischen Floskeln und will in der von den EU-Staats- und Regierungschefs dominierten Europapolitik selbstbewusst mitmischen. Am Höhepunkt der Griechenland-Krise reist er nach Athen, er lädt Ungarns Regierungschef Viktor Orban zur Aussprache über dessen umstrittene Reformen ins EU-Parlament ein, später auch den griechischen Premier Alexis Tsipras und die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydlo.

Schulz' größter politischer Coup kommt vor der Europawahl 2014, als er die großen Parlamentsfraktionen für das "Spitzenkandidat"-Konzept zur Bestellung des EU-Kommissionspräsidenten gewinnen kann. Er selbst lässt sich von den EU-Sozialdemokraten aufstellen, die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) schickt Juncker ins Rennen. Nach dem EVP-Sieg bei der Parlamentswahl bleibt den Staats- und Regierungschefs nichts übrig, als Juncker an die Spitze der Brüsseler Behörde zu hieven. Schulz wird mit einer weiteren Amtszeit als EU-Parlamentspräsident belohnt.

SPD-Chef Sigmar Gabriel nennt Schulz einen "engen Freund". "Selbst wenn er in die deutsche Innenpolitik käme, werden wir ganz sicher keine Konkurrenten", sagte Gabriel. Medienberichten zufolge soll der SPD-Chef den EU-Parlamentspräsidenten eingeladen haben, Nachfolger des im Februar ins deutsche Präsidentenamt wechselnden Außenministers Frank-Walter Steinmeier zu werden. Spekulationen, wonach Schulz auch die Kanzlerkandidatur bei der Bundestagswahl im September für sich gefordert habe, wurden zunächst heftig dementiert.

Doch Schulz hat dem SPD-Chef nicht nur seine rhetorischen Kenntnisse voraus, sondern auch höhere Beliebtheitswerte. Vor allem ist dem Rheinländer aber etwas gelungen, was für die deutschen Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren Seltenheitswert hatte. Bei der Europawahl 2014 konnte Schulz mit dem Turbo seiner EU-Spitzenkandidatur ein sattes Plus für die SPD einfahren. Sie legte um 6,5 Prozentpunkte auf 27,3 Prozent zu und kam so bis auf drei Prozentpunkte an Merkels Union heran.

SPD-Chef Sigmar Gabriel überlässt Martin Schulz mit der Kanzlerkandidatur einen Posten, den es offiziell gar nicht gibt: Eine Direktwahl des Regierungschefs findet wie in den meisten anderen westlichen Demokratien nämlich auch in Deutschland nicht statt.

Denn nach dem deutschen Grundgesetz entscheiden nicht die Bürger über den Regierungschef, sondern die Mehrheit des Bundestags. "Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt", heißt es in Artikel 63 der Verfassung.

Der üblicherweise von einem Parteitag nominierte Kanzlerkandidat ist somit nur ein personelles Angebot an die Wähler, mit dem signalisiert wird, wen die Partei im Parlament zum Regierungschef machen würde - wenn sie denn für ihren Kandidaten eine Mehrheit zusammenbekommt.

Einen vom Parteitag im Wahlkampf gekürten Kanzlerkandidaten gab es in der Bundesrepublik nicht von Anfang an: Es war 1960, als die SPD auf einem Parteitag in Hannover erstmals diese Funktion besetzte - und zwar mit Willy Brandt.

Der damalige Regierende Bürgermeister Berlins unterlag bei der Bundestagswahl von 1961 dann aber Amtsinhaber Konrad Adenauer von der CDU. Erst 1969 schaffte Brandt den Einzug ins Kanzleramt.

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