UNHCR: "Sie kommen nicht mehr raus"

UNHCR-Sprecherin mit Flüchtlingen in Griechenland
Das UNHCR plädiert für mehr legale Wege der Umsiedelung nach Europa.

Anlässlich des heutigen "Langen Tags der Flucht" ist UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming in Wien. Mit dem KURIER sprach sie vorab über die Fluchtbewegungen aus Syrien, die Ängste der Bevölkerung und die Verantwortung des "globalen Players" EU.

Die Flüchtlingsthematik ist in ganz Europa ein großes Thema, Wahlen werden damit gewonnen und verloren, Ängste geschürt, Debatten geführt. Wofür wollen Sie am heutigen Tag der Flucht Bewusstsein bilden?

Diese Aktion gibt es schon seit Jahren, heuer ist sie extrem wichtig wegen der großen Zahl an Asylsuchenden, die im Vorjahr nach Österreich kamen, und wegen des Unbehagens, das damit in der Bevölkerung verursacht wurde. Die Initiative soll Kontakt zwischen Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung herstellen. Verständnis erzeugen. Es gab viel negative, ausländerfeindliche, verzerrte Rhetorik und Berichterstattung, die auf unverantwortliche Weise Angst in der Bevölkerung geschürt hat.

Sie leben zum Teil in Österreich und kennen das Land gut. Es gibt hier viele Menschen, die sich mit der hohen Flüchtlingszahl unwohl fühlen. Wie kann man ihnen entgegenkommen?

Wir müssen ihnen ihre Ängste zugestehen. Menschen wollen ihre Kultur, Identität, Jobs bewahren. Aber ich glaube auch, dass Österreicher verstehen, dass es eine Verantwortung jenen gegenüber gibt, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Ein Mangel an Verständnis kommt oft daher, dass Rechtspopulisten die Situation verzerren und erklären, dass diese Menschen alle kommen, um von unseren Vorteilen zu naschen. Aber Emotionen kann man nicht mit Fakten bekämpfen.

Was kann man tun, um solche Ängste zu verringern?

Man kann Europas Möglichkeiten verbessern, die Ankünfte von Asylwerbern zu managen. Sie zu überprüfen, ihre Ansiedlung zu organisieren. Gleichmäßig verteilen. Dann würde niemand eine "Krise" spüren. Doch das wurde schlecht verwaltet im Vorjahr. Die Flüchtlinge haben es vorgezogen, in wenige Länder in Europa zu kommen – u.a. Österreich, das proportional dieselbe Anzahl wie Deutschland aufgenommen hat. Eine riesige Anzahl! Und Österreich war nicht vorbereitet. Ich verstehe also die Sorgen, die die Bevölkerung hier hat. Aber jetzt haben wir Luft zum Atmen, die Zahlen sind hinuntergegangen. Die Situation ist mittlerweile o.k.! Die Flüchtlinge, die im Vorjahr nach Europa gekommen sind, waren ein großer Weckruf.

Was geht Österreich die Krise im Nahen Osten an?

Wenn man sich – als Teil der EU – als großer politischer Player betrachtet, und es nicht schafft, die Kriege zu beenden, die diese Menschen zur Flucht zwingen, dann ist es das Mindeste, den Opfern zu helfen. Es ist nicht richtig, sie dazu zu bringen, ihr Leben auf Booten aufs Spiel zu setzen. Und dabei nebenbei noch den illegalen Menschenhandel zu ermöglichen. Wenn genügend Länder die Möglichkeiten der legalen Zuwanderung erhöhen würden, dann wäre das kein Problem mehr.

Warum sind so viele nach Europa gekommen?

Wir, also UNHCR, haben jahrelang davor gewarnt, dass uns das Geld für die Versorgung der Flüchtlinge fehlt. Vor allem dort, wo die meisten Flüchtlinge sind. 86 Prozent der Flüchtlinge sind nicht in Europa sondern in Entwicklungsländern. Sie leben in elender Armut. Syrer kommen aus einem Land mittleren Einkommens, aus ordentlichen Häusern, guter Schulbildung – und leben jetzt in Baracken oder Zelten in den Nachbarländern und die Kinder müssen für vier Dollar am Tag Erdäpfel pflücken. Das kann man für zwei oder drei Jahre aushalten, aber wenn man dann auf die Heimat blickt, wo alles noch schlimmer wird und es keine Aussicht auf Rückkehr gibt, dann rechnet man sich aus, dass es besser ist, das Leben zu riskieren, um nach Europa zu gehen. Verbessern wir also die Bedingungen in der Region! Verbessern wir die finanzielle Versorgung der Nachbarländer, die so viele Flüchtlinge tragen. Verbessern wir die legalen Möglichkeiten für Flüchtlinge, nach Europa zu kommen. Versuchen wir das gefährliche Schmugglergeschäft zu unterbinden, indem wir mehr Resettlement-Möglichkeiten eröffnen. Niemand fürchtet sich vor einer Flüchtlingsfamilie, die mit dem Flugzeug in Schwechat landet, von Beamten empfangen und in ein Dorf gebracht wird, das sich schon auf sie vorbereitet hat. Diese Art von Resettlement funktioniert sehr gut. Familienzusammenführung und Studentenvisa ebenfalls.

UNHCR: "Sie kommen nicht mehr raus"
Syrian refugees stuck between the Jordanian and Syrian borders waiting to cross into Jordan, walk at a camp, after a group of them crossed into Jordanian territory, near the town of Ruwaished, at the Hadalat area, east of the capital Amman, May 4, 2016. REUTERS/Muhammad Hamed

Sie sprechen von Umsiedelung. Aber kann man einem Flüchtling, der nach Österreich oder Deutschland wollte, einfach sagen: "Nach der Quote ist dein Platz aber in Bulgarien"?

Es ist schwierig, weil in der Diskussion einige Staaten gesagt haben sie wollen keine Muslime in ihrem Land. Flüchtlinge verdienen einen sicheren und würdevollen Ort zu leben. Wir hofften, dass das in Europa die Norm ist. Das zu gewährleisten liegt in der Verantwortung der Länder. Die Flüchtlingskrise legte die Unterschiede der einzelnen Staaten offen. Das Asylsystem ist nicht harmonisiert wie wir uns das wünschen würden.

Können wir nicht einfach ein bisschen mehr finanzielle Hilfe an Syriens Nachbarländer senden?

Geld ist sehr wichtig, aber es löst die Situation nicht allein. Flüchtlinge bevorzugen es ja, wohin zu gehen, wo sie ihrer Heimat näher sind, wo sie sich kulturell und sprachlich verstanden fühlen. Aber die Kriegsflüchtlinge sind eine globale Verantwortung. Man muss ihnen in den Nachbarstaaten helfen, aber zusätzlich muss man auch seinen Anteil aufnehmen. Es ist nicht richtig, sie dazu zu bringen, ihr Leben auf Booten aufs Spiel zu setzen. Und dabei nebenbei noch einen der größten Netzwerke des illegalen Menschenhandels zu ermöglichen. Wenn genügend Länder die Möglichkeiten der legalen Zuwanderung erhöhen würden, dann wäre das kein Problem mehr.

Der Schlüssel zur Krise ist also nicht nur die Unterstützung der Nachbarländer, sondern auch mehr Menschen aufzunehmen?

In Libanon, mit seinen vier Millionen Einwohnern, leben mehr als eine Million Flüchtlinge. Das ist nicht fair, sie haben sich nicht ausgesucht, Syriens Nachbar zu sein und haben den Krieg auch nicht begonnen. Unsere Message ist: Das ist eine globale Verantwortung. Wir können nicht sagen: „Das ist – aus geographischen Gründen – euer alleiniges Problem.“ Das sind Kriege, die in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft liegen. Und die Hilfe für die Opfer ebenfalls.

In den Nachbarstaaten können die Flüchtlinge zum Teil nicht einmal arbeiten oder in die Schule gehen. In der Türkei hat sich das geändert…

Ja und wir freuen uns sehr über diese Gesetzgebung, die es syrischen Flüchtlingen erlaubt, sich für eine Arbeitserlaubnis zu bewerben. Jordanien öffnet auch in einigen Sektoren den Arbeitsmarkt. Einen Job müssen sie dann natürlich auch noch finden. Aber das ist ein wichtiger Schritt. Denn als Syrer vor einem Jahr nach Europa kamen, war ein großer Grund, dass sie dort, wo sie waren, nicht arbeiten konnten. Wenn Flüchtlinge arbeiten können, ändert sich alles. Sie brauchen weniger Hilfe von Organisationen wie meiner. Und sie können ihre Kinder in die Schulen schicken. In den Nachbarstaaten Syriens können nur 50% der Flüchtlingskinder in die Schule gehen, von der Sekundarstufe ganz zu schweigen. Das sind die Kinder, die dann arbeiten müssen.

Die Arbeitsbedingungen sind auch in Europa Thema. In Österreich etwa die 1€-Jobs für Österreich

Ganz allgemein: Je früher man Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt bringt, desto schneller und besser funktioniert die Integration. Sie lernen die Sprache schneller, können schneller eine Gemeinschaft bilden, können schneller zur Gesellschaft beitragen.

Wir haben über die Unterstützung für Nachbarländer gesprochen. Die EU hat mit der Türkei einen Deal abgeschlossen und vor wenigen Tagen betont, mit dem Deal zufrieden zu sein. Ist das UNHCR denn zufrieden?

Wir haben den Deal nie vollständig begrüßt. Wir wollen sichergehen, dass es nicht einfach nur eine Verlagerung der Verantwortung ist. Es wurden auch erst wenige Asylsuchende in die Türkei zurückgebracht. Wir sind pro Investitionen in der Türkei. Wir haben auch gesehen, dass das Geld langsam da ankommt, wo es gebraucht wird. Schulen werden gebaut. Die Flüchtlingszahlen sind runtergegangen. Teils wegen des Deals, teils auch wegen des Zauns in Mazedonien oder wegen der Bedingungen in Griechenland. Europa glaubt, dass das auf den Deal zurückzuführen ist. Das heißt aber nicht, dass das Leid der Flüchtlinge weniger geworden ist, nur weil wir es hier nicht sehen. Die Situation ist immer noch dramatisch.

Weil die EU so zufrieden mit dem Türkei-Deal ist, stellt sie sich ein ähnliches Abkommen mit Nordafrika vor. Was halten Sie davon?

Was jegliche Art von Deal mit Libyen angeht, sind wir sehr misstrauisch. Libyen ist momentan unberechenbar. Natürlich sind wir für die Verbesserung der Bedingungen für Flüchtlinge in Ländern wie Ägypten oder der Türkei. Das sind Orte, wo Konditionen für einen Asylantrag akzeptabel wären. Aber da geht es uns darum, Verantwortung zu teilen. Nicht sie zu verschieben. Aber wichtig ist: Man kann Europa nicht komplett zumauern. Europas alternde Bevölkerung braucht Zuwanderung. Regulierte Zuwanderung.

Aber Wahlergebnisse der Rechtspopulisten und die Reaktion der etablierten Parteien darauf zeigen, dass strengere Asylpolitik und restriktivere Zuwanderungspolitik bei der Bevölkerung besser ankommt. In Österreich etwa werden prozentuell mehr Menschen wieder abgeschoben. Ist das die Lösung?

Keiner sollte in Länder zurückgeführt werden, wo er Krieg oder Verfolgung fürchten muss. Und ich hoffe und glaube, dass das auch nicht passiert. Ich glaube, dass es sich in diesen Fällen um Migranten handelt, die zuhause eine sehr schwierige wirtschaftliche Umstände erwartet, aber nicht Krieg.

Die Situation in Aleppo hat sich noch einmal verschlechtert. Sehen wir demnächst die nächste Flüchtlingswelle aus Syrien?

Natürlich werden mehr Menschen versuchen rauszukommen. Das Problem ist: Die Situation ist so unberechenbar, den Nachbarn fehlte so lange die Unterstützung – die Grenzen sind daher jetzt so gut wie dicht. 2013/2014 kamen teilweise 2000-3000 Menschen täglich nach Jordanien. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Sie kommen aus Syrien nicht raus. Viele syrische Flüchtlinge, die 2015 nach Europa kamen, sind mehr oder weniger direkt aus Syrien gekommen. Sie konnten Flugtickets von Beirut oder Fährentickets von Tripoli von zuhause aus kaufen und an der Grenze vorweisen, sodass der Grenzbeamte sie ins Land lassen konnte, weil sie ja nur auf der Durchreise nach Europa waren. Das geht heute nicht mehr. Denn die Türkei hat etwa auf Druck von Europa ein Visaregime für Syrer erlassen. Zehntausende Menschen warten an den Grenzen, es wird mehr intern Vertriebene geben (derzeit sind es 6,5 Millionen in Syrien). Flüchtlinge aus Aleppo werden an andere Orte in Syrien fliehen. Und viele sichere Orte gibt es nicht mehr. Wie Ban ki-Moon gerade erst sagte: Syrien ist ein Schlachthaus. Es ist die Hölle auf Erden, in der menschliches Leben keinen Wert mehr hat.

UNHCR: "Sie kommen nicht mehr raus"
UNHCR Chefin Melissa Fleming

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